: Die lautlose Invasion
ARTENSCHUTZ Ökologische und ökonomische Millionenschäden durch einwandernde Tierarten hat der WWF errechnet. Blinde Passagiere im Ballastwasser der Schiffe erobern und verändern Ökosysteme
Seit Jahrtausenden dringen Tier- und Pflanzenarten nach Europa und Deutschland ein. Im Zuge des Kolonialismus wurden vor allem exotische Pflanzen absichtlich in großen Mengen mitgebracht: Tomaten und Kartoffeln, Rhododendron oder Orchideen. Heimisch werden hier vor allem hochmobile Vögel, Säuge- und Meerestiere
■ Manche sind eingewandert, etwa Kanada-Gans und Marderhund oder auch, auf dem Balkan, der Goldschakal
■ Andere entwichen aus Gehegen oder wurden in kleiner Zahl ausgewildert: Nandu, Waschbär, Marderarten wie der Amerikanische Mink, Asiatische Streifenhörnchen
■ Unter den Meeresbewohnern sind es vor allem Quallen, Krebse, Seesterne, Muscheln und Austern, die zumeist mit Schiffen ankommen
■ Einen Überblick gibt eine – in ihren Wertungen umstrittene – englischsprachige Liste der angeblich 100 gefährlichsten Spezies unter www.europe-aliens.org (smv)
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Auf die Chinesische Wollhandkrabbe ist Karoline Schacht gar nicht gut zu sprechen. Auf 80 Millionen Euro schätzt die Fischereiexpertin der Hamburger Umweltstiftung WWF die Schäden, welche die bis zu 30 Zentimeter große Krabbe in Deutschland bislang angerichtet hat. Eine Summe, die auch Rolf von Ostrowski vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg „für möglich“ hält. Exakt lasse sich das nicht beziffern, sagt er, „aber die Größenordnung kommt wohl hin“.
Die Krabbe aus dem Fernen Osten kam als blinder Passagier nach Europa, im Ballastwasser großer Schiffe. Wenn diese ihre Tausende von Litern fassenden Tanks, die der Stabilisierung dienen, am Zielort wieder entleeren, dringen jede Menge tierische Globetrotter in ein unbekanntes Ökosystem ein. Sind die Lebensbedingungen einigermaßen zuträglich und natürliche Fressfeinde rar, dann vermehren sie sich.
Die Wollhandkrabbe ist heute in Nord- und Ostsee ebenso heimisch wie in Elbe und Rhein, sogar in Dresden und Basel wurden schon Exemplare aus dem Fluss geholt. Mit seinen Scheren zerschneidet und plündert der Eindringling Fischernetze oder unterhöhlt Deiche. Der Schiffsbohrwurm dagegen, eine Muschel, bohrt sich durch die Holzpfähle von Stegen und Duckdalben. Die Nordamerikanische Rippenqualle wiederum plündert die Jungfischbestände vor hiesigen Küsten.
Erst im vorigen Jahr wiesen Wissenschaftler des Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-Geomar) in Kiel nach, dass die 2006 erstmals in der Ostsee gesichtete Qualle auch Dorscheier vertilgt. Sie hat sich im wichtigsten Dorsch-Laichgebiet im Bornholm-Becken heimisch eingerichtet. Das könnte zu nachhaltigen Veränderungen in der Nahrungskette führen, so das Institut: „Mit dem Dorsch wäre erstmals eine Fischart betroffen, die an der Spitze der marinen Nahrungskette steht.“
Diese „lautlose Invasion muss gestoppt werden“, fordert nun der WWF, der seine Erkenntnisse zusammengetragen und am Montag in einer Studie veröffentlicht hat. Eine 2005 vorgelegte Konvention der UN-Weltschifffahrtsorganisation IMO – Thema: Kontrolle und Reinigung von Ballastwasser – haben bislang nur 18 Staaten unterzeichnet, kritisiert der WWF. Darunter sei mit Liberia nur eine der zehn größten Schifffahrtsnationen. „Die Technik ist vorhanden“, sagt Schacht und fordert die großen Reederei-Nationen auf, dem Abkommen beizutreten.
„Deutschland ist dabei, die Konvention zu ratifizieren“, sagt von Ostrowski vom BSH. Bislang sei das aber eher Theorie gewesen, weil es an technischen Mitteln gemangelt habe. Inzwischen jedoch seien mehrere Verfahren zugelassen und einsatzbereit. Sie enthielten Filter- und Desinfektionsstufen, würden mit oder ohne Chemie arbeiten, auch Ultraschall und ultraviolettes Licht käme zum Einsatz. Es bleibe aber Sache der Reeder, welcher Methode sie sich bedienen wollten.
Das bestätigt im Grundsatz der Verband Deutscher Reeder (VDR). „Wir sind einen Riesenschritt weiter gekommen“, sagt Verbandssprecher Max Johns. „Die Technik ist da, jetzt geht es in die Praxis.“ Bis Ende 2011 müssten alle Schiffsneubauten mit Systemen zur Kontrolle und Reinigung von Ballastwasser versehen werden. Für die Nachrüstung von Schiffen, die bereits vom Stapel gelaufen sind, gelten Übergangsfristen.
Auch wenn nicht alle ungewollten Zuwanderer Vernichtungsfeldzüge starten: Ökologische Gleichgewichte können sie gleichwohl empfindlich stören. Mitte der 1960er-Jahre etwa wurden in der Nordsee zu Zuchtzwecken Pazifische Austern angesiedelt. Offensichtlich genügte die Sommersonne, um im Wattenmeer das Wasser genügend aufzuheizen, damit sie sich unerwartet stark vermehrten. Inzwischen ist die europäische Auster weitgehend in die norwegischen Fjorde verdrängt worden, auch die Miesmuschelbänke im nordfriesischen Wattenmeer leiden unter der großen Cousine: Anders als in den Riffen des Pazifiks hat die Auster hier keine natürlichen Feinde – bis auf einen: den Menschen. Nicht nur auf der Nordseeinsel Sylt hält ja mancher die Auster für eine Delikatesse.
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