: Kulturkompass
NAVIGATOREN DURCH DIE KULTURELLE WELT Der Philosoph Marcus Beiner und die Geisteswissenschaften
VON RUDOLF WALTHER
Die Geisteswissenschaften stehen im Regen, auch wenn sie sich neuerdings lieber Kulturwissenschaften nennen. Ein deutscher Ministerpräsident und Manager sprach schon vor Jahren abwertend von „Diskussionswissenschaften“. Beim Kampf um Stellen, Betriebs- und Forschungsmittel kommen die Geisteswissenschaften nur noch unter ferner liefen ins Ziel.
Der im Wissenschaftsmanagement tätige Philosoph Marcus Beiner untersucht nicht die Gründe, warum die Geistes- und zum Teil auch die Sozialwissenschaften so ins Hintertreffen gerieten. Diese Gründe sind vielfältig auch hausgemacht. Geisteswissenschaften haben einen bedenklich schlechten Ruf und stehen unter permanentem Rechtfertigungsdruck. Beiner dagegen geht in die Offensive und fragt, was Geisteswissenschaften eigentlich machen. Und er stellt die Grundsatzfrage, ob die Art, wie Geisteswissenschaften arbeiten, nicht vielleicht doch zu einem Paradigma für alle Wissenschaft taugten. Zumindest dann, wenn man aufzeigen könnte, „dass ein am geisteswissenschaftlichen Verständnis orientierter Wissenschaftsbegriff sich möglicherweise als geeigneter für die Beschreibung der Realität gegenwärtiger Forschung in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen erweist als der noch dominierende und eher an klassischen Naturwissenschaften orientierte“ (Beiner).
Doppelte Historizität
Woran und wie arbeiten Geisteswissenschaften? Sie beschäftigen sich mit „gemachten“, das heißt geschichtlich geformten Gegenständen – hauptsächlich Texten, Bildern und Tönen. Hinzu kommt, dass auch geisteswissenschaftliche Forschung eine Geschichte hat. Geisteswissenschaften haben es also mit doppelter Historizität zu tun, der des Gegenstands und der der Forschung darüber.
Geisteswissenschaftliche Forschung trifft immer eine Auswahl aus vorliegenden Gegenständen und stellt Fragen an das Material unter subjektiv gewählten Gesichtspunkten, d. h. sie ist perspektivisch orientiert und nicht objektivistisch wie die Naturwissenschaft. Mit dieser Perspektivität kommt auch die Methodenwahl ins Spiel und damit die Frage der Reflexivität. Reflexion ist geradezu die „Generalmethode“ (Beiner) der Geisteswissenschaften. Und die Reflexion ist prinzipiell offen und unabschließbar. Das heißt, Texte können immer wieder unter neuen Gesichtspunkten interpretiert werden, und der Interpret ist der permanenten Kritik der Fachleute und tendenziell der Öffentlichkeit ausgesetzt. Die Frage der Angemessenheit von geisteswissenschaftlichen Deutungen, Analysen, Methoden, Differenzierungen, Verallgemeinerungen und Synthesen ist prinzipiell unabschließbar. In dieser Hinsicht ist geisteswissenschaftliche Forschung auf Intersubjektivität angelegt. Sie ist im Kern Deutung von anderen Deutungen; negativ gesagt: eine Art Sisyphos-Arbeit, positiv gesagt: ein Freiraum für Freiheit und Individualität.
Vielleicht ist die Endgültigkeit von Gesetzen in den Naturwissenschaften mit deren System- und Objektivitätsansprüchen nur ein vorläufiges und fragiles Ideal für Wissenschaft. Auf jeden Fall steht geisteswissenschaftliche Forschung mit ihrem permanenten und unabschließbaren Prozess der Reflexion, Kritik und Selbstreflexion der Lebenswelt und den Erfahrungen der Menschen näher als die labormäßige Trennung von Subjekt und Objekt in der naturwissenschaftlichen Kunstwelt.
Orientierungsleistung
Dafür trägt Beiner zwei starke Argumente vor. Geisteswissenschaften sorgen dafür, dass zentrale intellektuelle und emotionale Erfahrungen ganzer Generationen durch bewahrende, aktualisierende und kritische Aneignung weitergegeben werden. Und Geisteswissenschaften sind „in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sozusagen zuständig für die komplizierten Fälle sprachlicher Verfasstheit von Gegenständen von allgemeinem und speziellem Interesse.“ Geisteswissenschaftliche Forschungen können für Sinn- und Zweckfragen – also genuin politische Fragen – Kommunikations- und Orientierungsleistungen erbringen, vor denen Naturwissenschaften kapitulieren (müssen!). Oder sie können im Dialog mit den Naturwissenschaften das spezifisch geisteswissenschaftliche Reflexions- und Selbstreflexionspotential mobilisieren. Geisteswissenschaften können – dank ihrer Nähe zur Lebenswelt – auch Antworten auf Fragen nach der Herkunft und Zukunft von gesellschaftlichen Ordnungen aus den babylonischen Fachsprachen in die Alltagssprache übersetzen, also politische Aufklärung anbieten.
In diesem Sinne spricht Beiner von der Universalität, die zum Potenzial der Geisteswissenschaften gehöre: „Der Umgang der Geisteswissenschaften mit Dingen ist typisch dafür, wie Menschen sich in Umwelten zurechtfinden: Sie nähern sich den Dingen, indem sie sie reflektierend distanzieren, um sie zu verstehen und schließlich, ein weiterer Schritt, auch zu gestalten.“ Beiners Buch lässt sich nicht auf wilde Spekulationen ein, sondern will zum Nachdenken anregen und das Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften stärken.
■ Marcus Beiner: „Humanities: Was Geisteswissenschaft macht. Und was sie ausmacht“. University Press, Berlin 2009, 160 S., 24,90 €