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Archiv-Artikel

Hartz IV schafft neue Verschiebebahnhöfe

Ehemalige Sozialhilfeempfänger, bei denen unklar ist, ob sie erwerbsfähig sind, werden zwischen Job Centern und Sozialamt hin- und hergeschoben. Anzahl der Fälle unklar. Über Zweifelsfälle soll extra Einigungsstelle entscheiden

Hand aufs Herz, sind Sie erwerbsfähig? Können Sie mindestens drei Stunden am Tag einer Tätigkeit nachgehen, die auf dem Arbeitsmarkt angeboten wird? Zu Hause mal Fenster putzen oder Laub harken zählt nicht. Sie müssen erwerbsfähig sein – zumindest, wenn Sie erwerbslos sind und Arbeitslosengeld II beantragen (das ist die ehemalige Arbeitslosenhilfe, die auf Sozialhilfeniveau gestutzt wurde). Sind Sie nicht erwerbsfähig, kriegen Sie Sozialhilfe. Das ist zwar auch nicht mehr als das Alg II, aber Sie müssen sich dafür an eine andere Behörde wenden.

Womit die Probleme beginnen. Für die Auszahlung des Arbeitslosengeldes II ist nämlich das so genannte Job Center zuständig, die Behörde, die Arbeitsagentur und Sozialamt seit Januar gemeinsam betreiben; für die Sozialhilfe sind die Sozialämter verantwortlich. Die Job Center werden im Wesentlichen vom Bund finanziert, die Sozialämter von den Kommunen, das heißt in der Hauptstadt vom Land Berlin. Vom bürokratischen (Spar-)Standpunkt her gesehen ist es verständlich, dass die Verantwortlichen beider Behörden – Job Center und Sozialamt – so wenig wie möglich Geld ausgeben wollen.

Weniger Geld gibt die Behörde aus, die weniger Menschen unter ihren Fittichen hat. Deshalb kann es passieren, dass bedürftige Menschen von der einen Behörde zur anderen geschickt werden, weil sich niemand für sie zuständig fühlt, das heißt zahlen will. Dies haben zu Beginn des Jahres zum Beispiel etliche studierende Mütter erfahren, die eine Unterstützung für ihre Kinder erhalten wollten. Nun trifft es ehemalige Sozialhilfeempfänger, bei denen fraglich ist, ob sie erwerbsfähig sind. Wie viele das berlinweit sind, ist unklar; offizielle Zahlen werden von den Arbeitsagenturen nicht ermittelt. Mehr als 1.000, schätzt ein Sozialamtskenner. Einzelfälle, weniger als 100, heißt es in einem der zwölf Berliner Job Center. Über Zweifelsfälle soll ab April eine Einigungsstelle in den Job Centern entscheiden; dabei kann auch ein Amtsarzt hinzugezogen werden. Aber auch ärztliche Gutachten können nicht ausreichend sein: Rentenversicherungsträger brauchen mehrere Monate, um eine Erwerbsunfähigkeit zu bescheinigen.

Möchten Sie diese Prozedur auf sich nehmen, damit sich zwei Behörden entscheiden können, wer Ihre mickrige De-facto-Sozialhilfe zahlt? Nein? Dann beantworten Sie die Frage, die Ihnen seit Hartz IV direkt gestellt wird, richtig: Sind Sie erwerbsfähig? RICHARD ROTHER