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Archiv-Artikel

Hoffnung wohnt hier nicht mehr

Mit der Schwere eines Requiems: „Million Dollar Baby“, der neue, mit Oscars ausgezeichnete Film von Clint Eastwood, erzählt von einer Boxerin, die es um jeden Preis schaffen will, und von einem Trainer, der seine besten Tage bereits hinter sich hat

Eastwood hat zuletzt einen puritanischen Erzählstil kultiviert. Das ist diesem Film zugute gekommen

von ANDREAS BUSCHE

Frankie Dunn ist einer der besten cut men der Branche. „Ich stoppe Blut“, sagt er in R. X. Tooles Kurzgeschichtensammlung „Rope Burns“, „ich stoppe es zwischen den Runden für die Boxer, damit sie weitermachen können. Blut ruiniert die Jungs, und mein Job ist es, das Blut zu stoppen, damit sie genug sehen, um weiterzukämpfen. Ich mache diese eine kleine Sache, ich bin jeden Cent wert, den ich bezahlt bekomme. Wenn ich das Blut stoppe und den Kampf rette, liebt mich der Junge mehr als seinen Vater.“ Dunn präpariert die Wunden seiner Boxer mit einer Mischung aus Vaseline, blutstillenden Lösungen, Adrenalin und Q-Tips, die er ihnen in die Nase rammt. Manche Platzwunden sind so tief, dass man das rohe Fleisch durch die obszön klaffenden Öffnungen sehen kann. In „Million Dollar Baby“ zoomt die Kamera einmal in solch eine Wunde, direkt hinein in den Schmerzensherd, bevor das Bild körnig und schließlich schwarz wird.

Als Boxfilm ist Clint Eastwoods 26. Regiearbeit eine kleine Offenbarung. Die Kämpfe sind schnörkellos und direkt wie die Sprache von Tooles Kurzgeschichten, auf denen „Million Dollar Baby“ beruht. Sie dauern oft nur wenige Minuten und enden mit einem K. o. Keine ausgefeilten Boxchoreografien, sondern brutale Überlebenskämpfe: Raus in die Schlacht, rein in den Infight, und dem Gegner keine Sekunde zum Nachdenken lassen! Wille siegt über Technik. Eine konzentrierte Wut steckt hinter den Schlägen von Maggie Fitzgerald (Hilary Swank). Dies sei ihre letzte Chance, hat Frankie am Anfang zu ihr gesagt, eigentlich sei sie bereits zu alt fürs Boxen. Aber von irgendwoher mobilisiert sie ungeheure Kräfte, macht jüngere Gegnerinnen platt, steigt eine Gewichtsklasse auf, ist einfach nicht zu stoppen. Um nichts in der Welt, hat sie Frankie entgegnet, will sie zurück in den Trailerpark, zu ihrer übergewichtigen Mutter und der jüngeren Schwester, die Sozialhilfe für ihr totes Baby kassiert. Maggie Fitzgerald tritt für ihren Lebenstraum mit bloßen Fäusten ein. Sie ist ein amerikanischer Albtraum.

Eastwood selbst spielt die Rolle des cut man und Trainers Frankie Dunn. Dessen kleine Boxhalle in East Los Angeles hat wie er schon bessere Zeiten erlebt. Ein Mausoleum des Boxsports, für das der Set-Designer Henry Bumstead zu Recht mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Grünlich-braun strahlt das modrige Kunstlicht von der Hallendecke und gibt den Blick frei auf einen Trainingsparcours im fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Kein Ort, an dem man sich für eine große Zukunft wappnet; der heruntergefallene Putz hat das einst so stolze Wandbild der „Hit Pit Gym“ schwer in Mitleidenschaft gezogen und eine deprimierende Patina der Vergänglichkeit hinterlassen. Bumstead beweist ein feines Gespür für die Atmosphäre dieses Ortes, der aus einem dreckigen Noir-Boxfilm der Vierziger-, Fünfzigerjahre stammen könnte, vielleicht Mark Robsons „Der Champion“ oder „The Set Up“ von Robert Wise. Man ist ganz perplex, wenn man irgendwann die Hit Pit Gym wieder verlässt und in einer heruntergekommenen Back Alley im L. A. der Gegenwart steht.

Die Geschlossenheit der Milieus ist ein wiederkehrendes Motiv in den letzten Filmen Clint Eastwoods. Eastwoods Spätwerk lässt sich in zwei Kategorien einteilen: in die selbstironischen Porträts alter Männer, mit denen er in den Neunzigerjahren einen neuen, gebrochenen Eastwood-Typus etablierte (von Petersens „In the Line of Fire“ über „Space Cowboys“ bis zu „Blood Work“); und in seine zynischen Zivilisationsparabeln wie „Erbarmungslos“ oder zuletzt „Mystic River“. „Million Dollar Baby“ ist die Quintessenz dieses Alterswerks, das den Moden des Erzählkinos genauso wenig über den Weg traut wie dem moralischen Konsens westlicher Sozialgemeinschaften. In dem einen Punkt bleibt Eastwood Traditionalist, im anderen ein notorischer Pessimist. In einem Interview zu „Mystic River“ beschrieb Eastwood seine Vorstellung von gutem Kino unmissverständlich: „Es ist ein feines Beispiel für einen Schauspielerfilm. Es geht nicht um Spezialeffekte. Alles ist echt, echt fotografiert. Ein guter altmodischer Ensemblefilm. Sehr selten heutzutage.“

Eastwood hat in den letzten Jahren einen fast puristisch zu nennenden Erzählstil kultiviert. Das ist „Million Dollar Baby“ zugute gekommen. Mittellange Einstellungen, sparsame Musikeinsätze (ein paar hingeworfene Bluesakkorde, beste Americana) und das zurückgenommene Spiel seiner Darsteller vermitteln eine Stille, in der bereits eine tiefe Resignation zu spüren ist. Morgan Freemans lederne Off-Kommentare, seine trockenen Pulp-Aphorismen verstärken dieses Gefühl noch. „Million Dollar Baby“ besitzt die Schwere eines Requiems.

Eastwoods Figuren sind gescheiterte Existenzen. Eddie „Iron Scrap“ Dupris (Freeman), einst ein hoffnungsvoller Boxer, der halb blind seinen Lebensabend damit verbringt, im Hit Pit Gym den Hallenboden zu schrubben. Maggie, die nie ihre Chance gekriegt hat. Und Frankie, den es jede Woche wieder in die Kirche verschlägt, obwohl er seinen Glauben längst verloren hat. Bei Eastwood aber stehen die inneren Verletzungen seiner Figuren neuerdings auch symptomatisch für die Versehrtheiten eines Kollektivkörpers. In „Mystic River“ projizierte er die traumatischen Kindheitserinnerungen seiner Figuren auf den moralischen Niedergang einer ganzen Nachbarschaft. Eastwoods fundamentale Skepsis gegenüber repräsentativen Körperschaften wie Kirche und Staat wirft einen Schatten auf die gesellschaftliche Ordnung seiner Filme. Auch darum wird Frankies Boxhalle in „Million Dollar Baby“ mit solcher Bedeutung aufgeladen: Mit ihrem Vierzigerjahrecharme fungiert sie als nostalgischer Rückzugsort für die gescheiterten Alten.

Interessant ist im Zusammenhang mit Eastwoods ambivalenter Sozialphilosophie auch, wie sich über einen Zeitraum von weniger als zwei Jahrzehnten in der zeitgenössischen Filmkritik der Mythos festigen konnte, Clint Eastwood sei so etwas wie das liberalkonservative Gewissen der amerikanischen Filmbranche. Immerhin beachtlich für jemanden, den die Filmkritikerin Pauline Kael Anfang der Siebziger noch als „Faschist“ bezeichnet hatte. Nun ist es unbestritten, dass Eastwood politisch dem republikanischen Lager zuzuordnen ist. Gleichzeitig unterstützt er demokratische Politiker, spricht sich für eine liberale Wirtschaftspolitik und gegen die Todesstrafe und den Irakkrieg aus. Eastwoods unsentimentaler Humanismus, eine abgeschwächte Form von Altersstarrsinn, gefällt der Filmkritik. In „Million Dollar Baby“ hört man ihn sogar das erste Mal schluchzen. Frankie schleppt auch immer einen alten Yeats-Schmöker mit sich rum, den er auf Gälisch liest. Wie kauzig. Weitere Fragen werden nicht gestellt.

Zum Beispiel, wie es wirklich um Eastwoods Idee eines sozialen Gemeinwesens bestellt ist und wie sich die in seinen Filmen äußert. Im Zuge der Diskriminierungs- und Euthanasievorwürfe vonseiten amerikanischer Behindertenorganisationen und religiöser Fundamentalisten wegen „Million Dollar Baby“ war bereits einiges zu hören: Eastwood baut Luxushotels, lässt sie nicht behindertengerecht ausstatten und tritt dann vor dem Kongress auf, um gegen die Diskriminierung hart arbeitender Geschäftsmänner zu protestieren. Doch muss man gar nicht so weit blicken. Seine letzten Filme gewähren einige aufschlussreiche Einblicke in Eastwoods liberale Gesinnung, wenn er komplexe soziale Verhältnisse auf den kleinsten Nenner runterzubrechen versucht.

Eastwoods mangelndes Verständnis für soziale Randgruppen ist auch in „Million Dollar Baby“ befremdlich. So rigoros er im Film den amerikanischen Siegermythos untergräbt, so harsch bleibt sein Urteil über die Kollateralopfer dieser Mentalität. Wenn etwa Maggies Hillbillyfamilie als Inbegriff des Sozialschmarotzertums dargestellt wird, dann zeigt dies sehr deutlich die Toleranzgrenzen von Eastwoods liberalem Konservatismus auf. Hier hätte eigentlich nur noch der „Dueling Banjos“-Song aus „Deliverance“ zur musikalischen Untermalung gefehlt. Gerade in diesem Punkt konnte sich Eastwood über das Unverständnis seiner Landsleute nur wundern: „Was muss man ihnen denn noch alles bieten?“, ärgerte er sich in der New York Times über die Kritik von rechts. „Die Bösen im Film sind Menschen, die sich am amerikanischen Wohlfahrtssystem bereichern.“

So richtig böse ist in „Million Dollar Baby“ eine ostdeutsche Exprostituierte, die im Kampf um den Weltmeisterschaftstitel dem wütenden White-Trash-Girlie hinterrücks einen fiesen Schlag versetzt. Billie „The Blue Bear“, gespielt von der viermaligen Kickboxweltmeisterin Lucia Rijker, ist so unsympathisch gezeichnet, dass sie locker alle Ressentiments gegen osteuropäische Sportlerinnen bestätigt. Der Witz geht in „Million Dollar Baby“ auf ihre Kosten.

Der diffamierende Unterton, der Eastwoods Worten zu vernehmen ist, zielt unter anderem auch auf „Danger“ ab, einen etwas minderbemittelten Jungen, der seine Tage in Frankies Boxhalle verbringt, weil ihm sonst nichts bleibt. Auch hier geriet Eastwood ins Kreuzfeuer der Kritik. „Iron Scrap“ Eddie ist in „Million Dollar Baby“ der Einzige, der Danger überhaupt Beachtung schenkt – abgesehen von den Kids in der Gym, vor denen er den Jungen regelmäßig in Schutz nehmen muss.

Am Ende ist Freeman, nicht Eastwood, die Seele von „Million Dollar Baby“, wenn er mit Wischmopp und frischen Handtüchern die Ordnung im Hit Pit Gym aufrechtzuerhalten versucht. Im Vergleich mit dessen Straßenschläue zieht Eastwoods Altersstarrsinn in jeder Hinsicht den Kürzeren. Freeman ist es auch, der schließlich die vermeintliche Euthanasierede halten wird, ganz im Halbdunkel, als gäbe es für beide kein Entrinnen mehr vor der ewigen Verdammnis.