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Archiv-Artikel

Sag mir, wo die Wähler sind

Dokument Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer hat uns betrogen? Sozialpädagogen! SPD-Mitglied Jörg Fauser wusste das schon 1982

Jörg Fauser

■ geboren am 16. Juli 1944 in Bad Schwalbach, am 17. Juli 1987 in München tödlich verunglückt. Fauser war Romancier („Der Schneemann“, „Rohstoff“), Lyriker ( „Die Harry Gelb Story“) Journalist – und SPD-Mitglied. Er schrieb u. a. für Spiegel, TransAtlantik, tip und lui. Im Alexander-Verlag ist eine neunteilige Werkausgabe erschienen. Den hier abgedruckten Text entnehmen wir dem abschließenden Band: „Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten 1959–1987“. Zuerst veröffentlicht im tip, 1982. Eine Taschenbuchausgabe erscheint anlässlich des 65. Geburtstags des Autors in diesen Tagen bei Diogenes.

Zum Beispiel Herr L.: Berliner, 48 Jahre, Schachtmeister im Tiefbau, Gewerkschaftsmitglied seit 30 Jahren, waschechter SPD-Wähler. Vor der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus im Mai 1981 sagte Herr L.: „Ich habe immer SPD gewählt, was sonst?“ War doch keine Frage, solange Willy da war. Aber schon bei Schütz ging das ja los, und dann dieser Milchbubi Stobbe. Der war doch völlig hilflos. Wenn unsereins mal nur eine Auskunft brauchte, haben die hohen Herren sich Monate Zeit gelassen, diese Bürokratenhengste. Aber als ich draußen in meinem Garten eine Hütte gebaut habe, da waren sie gleich da mit ihren Meßlatten: Sie, das ist ein Zentimeter höher, als das Amt genehmigt. – Und die Neue Heimat: Braucht mir doch keiner zu erzählen, was da läuft. Ich finde ja auch, die Hausbesetzer haben recht, nur die Arbeiter kriegen sie so nie auf ihre Seite.“

Die Etablierten

Herr L. wählte nicht mehr SPD. „Die müssen eins vors Dach kriegen. Aber ich als Arbeiter kann doch keine Langhaarigen-Partei wählen. Mir bleibt keine andere Wahl: ich wähle CDU.“ Da nützte es der SPD auch nichts, daß sie mit Hans-Jochen Vogel einen ihrer besten Männer nach Berlin beordert hatte. Sein Notopfer war – zumindest was den Augenblick betraf – so vergebens wie das von Klaus von Dohnanyi in Hamburg, der auch nicht mehr retten konnte, was nicht mehr zu retten war. Und es war nicht mehr zu retten, weil die traditionelle Klientel dieser Partei – die Arbeiter – sich von ihr im Stich gelassen fühlt.

Es ist schon fatal: Über 100 Jahre politischer Arbeiterbewegung haben dazu geführt, daß der Schachtmeister L. und die Schrebergärtner von Hamburg-Billerhude, die Siemens-Arbeiter in Reinickendorf und die kleinen Leute in Eimsbüttel einen Herrn v. Weizsäcker und die Kaviar-Kamarilla des Jet-Set-Fitti Leisler Kiep wählen. Aber wen sollten sie sonst wählen, wenn ihre Traditionspartei nach 13 Jahren Regierung so agiert wie ein multinationaler Konzern – und im übrigen immer mehr dem Staatsapparat gleicht, dem alle Abhängigen dieser Welt, sogar die deutschen, mit angeborenem Mißtrauen begegnen?

Nun bloß nicht: die Grünen! Man braucht kein Schachtmeister zu sein, um Herrn L. zu verstehen. Werfen wir einen kurzen Blick auf die GAL-Wahlsieger von Hamburg. In der Bürgerschaft geben vier von neun Gewählten ihren Beruf mit Lehrer an, da sage ich gleich danke nein, allerdings verwundert es mich auch nicht, wenn diese Volksvertreter mit einer Borniertheit vor die Kamera treten, die schon ganz so echt wirkt wie die der „Etablierten“. Nun, man wird ja sehen, wie weit sie es bringen. Ich wage die Prognose, daß dieses Bündnis von Sozialpädagogen und Reformkostfanatikern, von pseudolinken Sportlehrern und Anhängern der ökopazifistischen Bewegung „Jedem seinen biodynamischen Komposthaufen auf den Atombunker!“ in der Politik Schiffbruch erleiden wird.

Es ist ja nicht nur das zutiefst reaktionäre Demokratieverständnis dieser „Bewegung“ (dazu müßte sie freilich einmal einen Historiker konsultieren, der ihr z. B. die Mechanismen der Französischen Revolution – auch so einer „Basisdemokratie“ – erklären könnte) und die Blut-und-Boden-Rhetorik ihrer agrarischen und leider auch kulturellen Vordenker (vgl. Jörg Schröder, „Cosmic“), die sie – ist der Reiz des Neuen erst einmal verflogen und der Rausch des Erfolgs dem Alltagstrott gewichen – zumindest ihrer noch politisch argumentierenden Wählerschaft entfremden wird. Denn wenn sie sich politisch nicht aufgeben und zu parlamentarischen Angestellten einer Neo-Flagellanten-Truppe degenerieren wollen, dann müssen sich die Abgeordneten vom GAL/AL-Typ bald dazu bereitfinden, Politik nicht als permanente Fragestunde zu betreiben, sondern als Austausch von Geben und Nehmen auf einer Geschäftsgrundlage, die nur mit 50,1 % der Wählerstimmen verändert werden kann – und von anderen Methoden der Veränderung haben wir in Deutschland immer noch und noch lange genug.

Meuterei der Maschinisten

Womit wir wieder bei der SPD sind, Schnitt zum Erich-Ollenhauer-Haus, und da haben wir ja auch Peter Glotz im Bild, wen sucht er denn nur mit seinen großen Brillen? „Sag mir, wo die Wähler sind, wo sind sie geblieben ?“ Freilich: daß nun auch in der dritten westdeutschen Millionenstadt das Kombinat der Krämer und Banker mit Hilfe von Arbeiterstimmen regiert, sollte die SPD endlich aufrütteln. Wie lange will sie sich eigentlich noch um des Erhalts einer Macht, die wie der Stein des Sisyphus ihre ganzen Kräfte bindet und ihre Züge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, vor ihrer Klientel verleugnen und sich um ihr Prestige, ja ihre Identität bringen lassen?

Die Lotsen auf der Brücke sind ratlos. Der Kapitän resigniert. Weit und breit nur noch Seelenverkäufer unterwegs

Am Tag nach der Wahl stand in Hamburg in der Zeitung, daß fast 25 % der ungelernten Arbeiter aus Angst vor Entlassungen keinen Urlaub mehr machen. So etwas schadet der Partei der sozialen Demokratie drastischer als das Fischesterben in der Elbe und das Baumsterben im Schwarzwald. Der Mantel des Weltökonomen ist Helmut Schmidt zu weit geworden, und wenn die SPD nach den 15 % Miesen in den Siedlungen der Neuen Heimat nicht begreift, daß auch ihre natürlichen Anhänger keine Blankoschecks mehr ausstellen, dann braucht der Bundeskanzler sich nach einem neuen Mantel nicht mehr umzuschauen. Nicht das Abdriften von Aussteigern und die Seekrankheit einer überfütterten Mittelklasse lassen den Tanker SPD auf Grund laufen, sondern die Meuterei der Maschinisten.

Die Lotsen auf der Brücke sind ratlos. Der Kapitän resigniert. Weit und breit nur noch Seelenverkäufer unterwegs. Bald geht die Sonne unter. Dramatischeres steht bevor als ein Regierungswechsel, so sinnlos er gerade jetzt sein mag: der endgültige Austritt der deutschen Arbeiter aus dem demokratischen Sozialismus.