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Archiv-Artikel

Ein Nein zum Nein

Verweise auf Frauen: Das Musikensemble Zeitkratzer torpedierte bei seinem Auftritt in der Volksbühne so hingebungsvoll die Erwartungshaltungen, wie es vorher alle von ihm erwartet hatten – „neue Musik“, gespielt an der Grenze der Belastbarkeit

VON JAN KEDVES

Man wunderte sich bereits: Da spielten Zeitkratzer am Freitagabend in der Volksbühne ein Konzert anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Platte auf Volksbühne Recordings, und dann gab es im Foyer keine Möglichkeit, diese Platte zu erwerben, geschweige denn wenigstens mal anzuschauen. Record Release ohne Record? „Die CDs sind noch nicht da“, bestätigte der Perkussionist des Ensembles und erzählte etwas von Problemen mit dem Presswerk.

Wie das passte! Schließlich ging es an dem Abend nicht um irgendeine Platte, sondern um den Mitschnitt eines Programms, das Zeitkratzer vor drei Jahren im Rahmen des von Diedrich Diederichsen am selben Ort organisierten Kongresses „Die Kraft der Negation“ spielte. Damals ging’s um das Nein in all seinen kulturellen Facetten.

Das mit den fehlenden Platten sollte nicht die letzte Negation des Abends bleiben. Immerhin genießt Zeitkratzer – das Berliner Ensemble, das sich auf das spezialisiert hat, was mangels besserer Begrifflichkeiten unter „neue Musik“ subsumiert wird – den Ruf, gerne Erwartungshaltungen zu torpedieren. Über den Haufen geworfen wurde zunächst einmal der Brauch, dass bei Record-Release-Konzerten das Programm der veröffentlichten Platte gespielt wird. An 2002 erinnerte nur noch das erste Stück, ein spukhafter, von schweren Tom-Schlägen nach vorne getriebener Feedback-Drone: Throbbing Gristles „Hamburger Lady“. In dem ausschließlich von Männern – zumindest anatomisch betrachtet – dargebotenem Programm stellte dies einen ersten Verweis auf Frauen dar.

Der zweite folgte, als Terre Thaemlitz, der prominenteste Gendernaut und Queer-Theoretiker der elektronischen Musik, mit seinen dunkelroten Zöpfen die Bühne betrat, um mit Zeitkratzer zwei seiner House-Tracks aufzuführen. Während der Perkussionist bei dem Versuch, die sonst maschinengetakteten Beats möglichst geradeaus zu trommeln, ganz schön ins Schwitzen kam, spielte Marc Weiser von Rechenzentrum über sein Laptop Geräusche ein, die man als weibliches Maunzen interpretieren konnte.

Zeitkratzer spielt seine Konzerte nicht nur mit neun Solisten, sondern auch mit 15 Mikrofonen – ein Umstand, der dazu führt, dass sich die einzelnen Stimmen übereinander legen, bis sie völlig im Getöse aufgehen. Besonders während Carsten Nicolais „Syn Chron Bitwave“ führte dies im Publikum zu interessierten Ratespielchen. Wer nun gerade für welchen Teil welches Geräuschs verantwortlich sei, fragte man sich. Die Blicke wanderten unaufhörlich von links nach recht, vom Ensembleleiter Reinhold Friedl am Flügel nach rechts zu den Bläsern und über den in der Mitte thronenden Gong wieder zurück. Wie beim Tennis.

Dabei wurde man auch Zeuge allerhand unkonventioneller Arten, Instrumente zu spielen: Der Trompeter pustete durch seine Trompete, ohne Töne zu erzeugen, der Schlagzeuger strich mit einem Bassbogen über etwas, das von weitem einer Mausefalle ähnelte, und Reinhold Friedl beugte sich über die Tasten des Flügels, um tief in dessen Inneres zu greifen. Einmal sah das sogar so aus, als kämme er einen an einer Basssaite festgeknoteten Pferdeschwanz.

Die Sensation des Abends hatte sich Zeitkratzer allerdings für den Schluss aufbewahrt: Manuel Göttsching, der in Ehren ergraute Ash-Ra-Temple-Veteran, verknotete in der Mitte der Bühne die Knie unter seiner Akustikgitarre, um mit dem Ensemble seinen Klassiker „E2–E4“ zu spielen. Auch hier gab es wieder einen Verweis auf Frauen: „Damen Eleganza“ nennt sich der Mittelteil des Epos, das Mitte der Achtziger der Balearen-Houseszene kollektive Trancetaumel bescherte. Die Zeitkratzer-Version wirkte nicht ganz so euphorisiert, doch war es hochinteressant, mit anzusehen, wie das Stück die Musiker an die Grenze der Belastbarkeit trieb: Dass der Klarinettist, der das Thema des Stücks eine halbe Stunde lang auf einer Melodika nachpusten musste, nicht hyperventilierend vom Stuhl kippte, schien wie ein Wunder.

Die Vermutung, elektronische Musik ließe sich mit einem klassischen Ensemble nicht nachspielen, wurde somit also nachdrücklich negiert – im Gegensatz zu dem schönen Brauch, dass Solisten am Ende eines Konzerts einen Blumenstrauß überreicht bekommen. Er wurde gepflegt, vermutlich, weil man im Publikum in diesem Punkt eigentlich schon mit einem weiteren Traditionsbruch gerechnet hatte. Ein Nein zum Nein: Konsequenter hätte der Abend keinen Abschluss finden können.