: Kein Platz neben dem Leid
„Kein Wunder, dass die Kinder weggegangen sind. Wir haben sie vergiftet“: Louis van Gasterens Dokumentarfilm „Der Preis des Überlebens“ zeigt das Porträt einer Familie – und dass die NS-Zeit auch nach dem Tod der Zeitzeugen nicht verarbeitet ist
VON JAN-HENDRIK WULF
Was von dem ehemaligen niederländischen KZ-Häftling Joop nach seinem Tod im Jahr 2000 übrig bleibt, ist nur eine Handvoll Asche in einer Urne. Seine Witwe Dina macht sich auf den Weg zur Gedenkstätte Sachsenhausen, um seine Überreste auszustreuen. Erlaubt sind solche wilden Bestattungen ja nicht. Doch die Witwe meint damit, dem letzten Willen ihres Mannes zu entsprechen: „Er sagte immer: ‚Warum musste ich zurückkommen? Warum durfte ich nicht bei meinen Kameraden bleiben?‘ Er gehört dorthin.“
Der ehemalige Häftling mit der Nummer 42392 hinterlässt aber auch drei erwachsene Kinder, die ihrem Vater das letzte Geleit verweigern und nur noch mit Verbitterung auf das vergangene Familienleben zurückblicken. In der 56-minütigen Filmdokumentation „Der Preis des Überlebens“ zeichnet der niederländische Regisseur Louis van Gasteren das Porträt einer Familie, in der die Verbrechen der NS-Zeit eine bis zur Gegenwart reichende Kette psychischer Destruktionen ausgelöst hat. Mit dem Ableben der letzen Zeitzeugen, das machen ihre in diesem Film gezeigten Stellungnahmen deutlich, ist die NS-Zeit noch längst nicht zu Ende gegangen. Im retrospektiven Blick der Kinder beschreibt der Film eine Psychodynamik, mit der sich die vom Vater im Lager erfahrenen Leiden in eine innerfamiliäre Tyrannei der Negativität verwandeln und er selbst vom Opfer zum Täter wird.
„Bei uns war eigentlich kein Platz für eine Familie. Alles war darauf ausgerichtet, meinen Vater zu schonen“, beschreibt das der jüngste Sohn Reinier. Keine persönliche Empfindung habe der Vater neben dem von ihm selbst erlebten Leid gelten lassen können. Zu den Gedenkveranstaltungen und Ehemaligen-Treffs des Vaters sei die Familie immer mitgereist und habe doch zu spüren bekommen, dass sie nicht wirklich dazugehöre.
Van Gasteren zeigt ein solches Treffen im KZ Sachsenhausen, wo sich alte Männer mit Hüten wiedertreffen und das Lied von den Moorsoldaten hören. Doch zugleich erzählt der Film, dass die im Lied herbeigesehnte Freiheit sich mit dem Ende der Lagerhaft als gar nicht immer so verheißungsvoll herausstellte.
So erinnert sich Joops Witwe, dass ihr Mann sich nach seiner Rückkehr für tot erklärt habe: „Er sagte, dass er im Schlamm verreckt sei und ich froh sein könne, dass ihn die Ratten nicht angefressen hätten.“ Nichts im späteren Leben habe dem ehemaligen Häftling noch Freude bereitet. Selbst das Freizeitvergnügen, mit dem Boot auf niederländischen Gewässern herumzuschippern, hatte einen ernsthaften Hintergrund: Zu Wasser sollten „sie“ ihn nicht so schnell holen können. Und die Mauser-Gewehre im Schrank sollten nur dazu dienen, Frau und Kinder schnell erschießen zu können, falls die Deutschen einmal wiederkämen. Tiefenpsychologisch ergibt das Sinn: sich dem eigenen Angstgefühl durch Assimilation zu erwehren, also selbst zu veranstalten, wovor man sich fürchtet. Die Gewehre kamen erst aus dem Haus, als einer der Söhne mit ihnen spielte. „Weg mit dem Zeug, sonst sind die Kinder schon tot, ehe die Deutschen kommen!“, verlangte Joops Frau lakonisch.
Die beiden älteren Kinder brachen als Erwachsene den Kontakt zu ihren Eltern ab. In van Gasterens Dokumentation wollen sie nicht vor die Kamera treten, haben sich aber schriftlich zum Familienleben geäußert. „Emotional wurde ich von meinen Eltern umgebracht“, erfährt man so vom ältesten Sohn. Und die nach einem ehemaligen Lager-Kameraden benannte Tochter Rudi wirft ihrem Vater im imaginären Zwiegespräch vor, sie für seine eigene Vergangenheitsbewältigung instrumentalisiert zu haben: „Irgendwann gab ich es auf, ein Rudi sein zu wollen. Sie hätten dich im Lager behalten sollen. Das hätte uns viel Elend erspart.“ Denn in ihrer emotionalen Kälte und später fehlenden Reue hätten sich die Eltern ihren eigenen Kindern gegenüber nicht viel besser verhalten als die Nachkriegsdeutschen gegenüber den NS-Opfern.
Eine Einsicht, die Rudis Mutter inzwischen durchaus teilt: „Kein Wunder, dass die Kinder weggegangen sind. Wir haben sie vergiftet. Nur wussten wir das nicht.“ Wie ihre Tochter hat auch sie sich mittlerweile in psychologische Behandlung begeben: „Ich kann das Lager, in dem ich selbst niemals war, einfach nicht vergessen.“
Beim Zuschauer kann van Gasterens Dokumentation in mehrfacher Hinsicht Missmut auslösen. Zum einen muss es beunruhigen, was die Kinder als Folge der familiären Konstellation für ihr weiteres Leben reklamieren: Ist es nur den Umständen geschuldet, dass Eltern noch so viel Macht über ihre erwachsenen Kinder haben können? Zum anderen werden die NS-Verbrechen aus der tiefenpsychologischen Perspektive des Familiendramas heraus zu einer fast beliebigen Größe. Das KZ-Trauma des Vaters scheint in seiner Weitergabe an die folgende Generation aus dem Kontext gerissen und damit auch entpolitisiert zu werden. Doch natürlich muss niemand den Sichtweisen dieser familiären Selbstdeutungen folgen. Man sieht hier bloß, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auch ganz andere Gesetze kennt als die offizielle Geschichtsschreibung.
„Der Preis des Überlebens“ (De pris van overleven), R.: Louis van Gasteren. 56 Min., Niederlande 2003. FSK am Oranienplatz, Termine im Programm