Die Sterne schauen zu

SPEKTAKEL Phädra ruft den Himmel an, Kasimir spielt Luftgitarre: Auf dem „Athens & Epidaurus Festival“ treten internationale Stars in den Theatern der Antike auf. Eine wunderbare Kulisse, die manches sehr klein aussehen lässt

Es gibt kaum Signale, dass es bei diesem Festival auch um anderes als etablierte Namen gehen soll

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Theater ist eine sehr alte Kunst. Das bezeugen die antiken Theater aus hellenistischer und römischer Zeit in Athen und Epidaurus, die – für 5.000 und 10.000 Zuschauer gebaut – schon allein durch ihre Größe von einer erstaunlichen Bedeutung der Kunstform erzählen. Wenn dort heute wieder gespielt wird, wie bei dem „Athens & Epidaurus Festival“, dann bildet die Geschichte einen sehr tiefen Hallraum: Sich in ihm zu behaupten, mehr zu sein als großer Kulturevent vor spektakulärer Kulisse, ist nicht einfach.

Helen Mirren hat es versucht. Gerade dieser britischen Schauspielerin, deren Aura aus Disziplin, Leidenschaft und Zurückhaltung zuletzt ihrer Rolle der „Queen“ in der Regie von Stephen Frears zugutekam, traut man zu, die Sehnsucht nach einer Größe, die über die Gegenwart hinausgeht, mit Wahrhaftigkeit zu verbinden. Sie spielt Phädra, jene zurückgezogene Königin, die sich in ihren Stiefsohn verliebt und diese Leidenschaft lange hinter Abweisung und Strenge verbirgt, bis sie daran fast zugrunde geht. Das National Theatre of Great Britain und das „Athens & Epidaurus Festival“ haben die Inszenierung zusammen produziert. Mirren ist einer der Stars des Festivals, das am gleichen Ort auch noch Jeanne Moreau in einer Inszenierung von Amos Gitai erwartet.

Museal und hölzern

Aber vor diesem Horizont der Erwartungen wirkt Jean Racines „Phèdre“ enttäuschend museal und hölzern. Als ob der Regisseur Nicholas Hytner versucht hätte, mit Racines Text (in klar artikuliertem Oxford-Englisch) zugleich das deklamatorische Gestenrepertoire der Klassik wieder zu rekonstruieren, werden Arme zum Himmel erhoben, Handflächen geöffnet, Kniefälle geübt. Mit Dominic Cooper, der den von Liebe verfolgten und bald auch aus Eifersucht verratenen Hippolytus spielt, steht zwar ein zweiter Filmstar im antiken Rund. Doch er zeigt neben wohl definierten Muskeln eine Schlichtheit des Gemüts, die schon unfreiwillig komisch wirkt. Die Positionierung der Figuren auf dem Sandboden ist äußerst statisch, und weder der Raum zwischen ihnen noch der Himmel über ihnen öffnet sich den Geistern und Göttern, die sie beschwören.

Das „Athens & Epidaurus Festival“ ist eines der großen Zahlen. 7.000 Zuschauer sehen „Phèdre“ in der ersten Nacht, 9.000 in der zweiten. Die Besucher, die mit Autos oder Bussen zu dem 150 Kilometer von Athen entfernten Theater in Epidaurus gekommen sind, werden in einer bewundernswerten Verkehrschoreografie nach der Vorstellung vom Parkplatz runter und auf die Landstraße gewunken, wo sie zweispurig, ohne Gegenverkehr, an einladend winkenden Gastwirten vorbei bis ins nächste Dorf oder zur nächst größeren Straße fahren. Seit der Intendant Yorgos Loukos vor drei Jahren angetreten ist, die Sommerfestspiele von Athen und Epidaurus zu fusionieren und zu internationalisieren, hat sich der Publikumszuspruch verdreifacht. 230.000 Zuschauer sollen es dieses Jahr werden, ein Drittel des 18-Millionen-Etats kommt über Ticketverkäufe herein.

Klar, dass man dafür auch große Namen braucht, die über die Theaterwelt hinausklingen, wie eben von Kinogrößen wie Helen Mirren. Am Abend ihrer ersten Aufführung in Epidaurus macht das Gerücht die Runde, dass ihr „Freund“ Tom Hanks kommen wird und später mit ihr auf die Jacht eines griechischen Millionärs eingeladen ist. Hanks kommt tatsächlich mit seiner Frau, sie stellen sich ein paar Fotografen. Und dann macht er dem Publikum eine große Freude, als er sich selbst in Epidaurus mit Handy fotografiert. Und gleich noch mal das Publikum ablichtet.

Ein paar Krümel Glamour

Aber diese paar Krümel Glamour vermögen nicht darüber hinweg zu trösten, dass die Inszenierung dann so altbacken steif wirkt und damit ein Bild bedient, in dem das Theater tatsächlich als historisches Format der Gegenwart des Kinos gegenübersteht. Als ob die Schauspieler auf der Bühne selbst glauben wollten, dass die hohe Kunst eben nicht viel gemein haben darf mit den geschätzten Eigenschaften des Kinos.

Ganz anders sieht das glücklicherweise der Regisseur Johan Simons. Auch ihn hat Yorgos Loukos in ein antikes Theater eingeladen, ins Odeon in Athen, mit „Kasimir en Karoline“ von Ödön von Horváth. Simons, der ab der kommenden Spielzeit der neue Intendant der Kammerspiele in München sein wird, hat das Stück mit der ihm seit langem verbundenen Companie des NTGent inszeniert und wird es später beim Festival von Avignon im Papstpalast wieder unter freiem Himmel zeigen. Dass dies auch der Himmel ist, der sich über jenem Oktoberfest wölbt, auf dem Kasimir seine Karoline verliert, glaubt man hier indes leicht. Denn während die Achterbahn faucht, die Spielautomaten rattern und ein wenig nationalsozialistische Propaganda sich vor die Zukunft schiebt, schwitzen die Figuren ihre Ängste aus, als hätten sie ihr Bier nur drei Häuser weiter getrunken.

Die historische Kulisse der steinernen Bögen und Türme des Odeon bildet hier keine respektheischende Figur der Beeindruckung, sondern fügt sich in die durchlässige Raumstruktur, die der Berliner Bühnenbildner Bert Neumann aus Wellblechwänden, Gerüsten, Leuchtzeichen und glitzernden Buchstaben gebaut hat, wie ein zusätzliches Fragment in die ewige Baustelle Stadt ein. Langsam und melancholisch begleitet eine vierköpfige Kapelle die schon sehr gebremste Ausgelassenheit der Arbeiter, Aufsteiger und Kleinkriminellen Horváths, und lässt ihre spröden Sätze wie Papierschiffchen auf ihren Wellen tanzen. Die Musik steigert die Beiläufigkeit, mit der Horváths Figuren auch gerade da, wo es ihnen an den Kragen geht, über ihr Verhältnis zur Welt nachdenken.

Wim Opbrouck als Kasimir begleitet sein Spiel mit kleinen, kindlichen Geräuschen: Sein Trotz, seine Wut, als er sich von Karoline erst für einen anderen Mann, dann für den sozialen Aufstieg verlassen glaubt, sind infantil – aber das ahnt er eben auch. Kasimir spielt Luftgitarre, singt Karaoke: Wo immer er ein Handlungsmuster imitiert, streift er zumindest die Möglichkeit, es als Muster zu erkennen. So hat Simons einige der Figuren Horváths zu Charakteren weiterentwickelt, die etwas mehr über sich gelernt haben, als ihre bisherigen Interpreten zuließen; andere dagegen, wie der Unternehmer Rauch, verflachen zur Karikatur.

Arbeit am Image

Die Figuren schwitzen ihre Ängste aus, als hätten sie ihr Bier nur drei Häuser weiter getrunken

Zu dem Festival, das Anfang Juni begann und bis in den August hinein geht, hat Yorgos Loukos auch „Die Ratten“ in der Regie von Michael Thalheimer, „Riesenbutzbach“ von Christoph Marthaler und „Radio Muezzin“ von Rimini-Protokoll eingeladen. Der Regisseur Dimiter Gotscheff probt noch mit Schauspielern des griechischen Nationaltheaters „Die Perser“, die Ende Juli in Epidaurus Premiere haben werden. Das flämische und das deutschsprachige Theater sind für den Festival-Intendanten wichtige Marken. Zudem gibt es viele Konzerte – Klassik, Avantgarde, Jazz – und Auftritte von Tanzcompagnien wie den großartigen Rosas von Anne Teresa de Keersmaeker aus Brüssel. Je mehr man sich in das Programm vertieft, desto schwieriger scheint es, ein Profil zu erkennen. Das griechische Festival kann nicht wie Salzburg oder Avignon auf eine jahrzehntelange und imagebildende Tradition zurückblicken; eine Neupositionierung unter diesen Akteuren ist aber auch deshalb schwer, weil viele der größeren Produktionen gleich von mehreren Festivals produziert werden und dort zu sehen sind.

Junge Zuschauer

Yorgos Loukos weiß trotzdem, woran er sein Ziel misst. Etwa daran, dass das Publikum jünger geworden ist. 60 Prozent der Festivalbesucher, sagt er, seien inzwischen zwischen 18 und 30 Jahre alt. Das liegt auch an günstigeren Tickets, neuen Spielorten und vielen Tanzcompagnien im Programm. In Peiraios 260, einem ausgedehnten Gelände alter Industriehallen, läuft an einem Abend neben „Radio Muezzin“ von Rimini-Protokoll eine Performance für drei Tänzer, die sich dem Geist des Verschwundenen verschrieben haben. Auf dem Weg in einen dunklen Raum lassen kleine Lämpchen alte Fotos erkennen, auf denen die Gesichter der Menschen ausgekratzt sind. Auch innen lässt das Licht erst nur für Sekunden da eine Treppe, die vor einer geschlossenen Wand endet, dort ein zusammengebrochenes Regal erkennen, und die drei Tänzer Laurie Young, Panagiota Kallimani und Fillipe Lourenco tauchen zuerst wie abgelegte Gegenstände zwischen dem nutzlosen Müll der Vergangenheit auf.

Mit beinahe romantischer Attitüde häuft ihr nur halbstündiges und atmosphärisch dichtes Tanzstück Bilder des Zusammenbruchs auf, vom Ende der Familie, der Arbeit, der Erinnerung. Am Ende sickert Wasser durch die Wände und regnet aus den Leuchtstoffröhren an der Decke. Es ist ein kleiner und feiner Abgesang auf das Ende einer Epoche, die eben auch den Leerstand der großen Gewerbehallen hervorgebracht.

Doch obwohl diese Tanzinstallation so gut zu dem Ort passt, wirkt sie etwas verloren im Programm. So bleibt die Produktion der neu gegründeten Gruppe „The Plant“ nur wie ein winziges Signal, dass es bei diesem Festival einmal auch um anderes als etablierte Namen gehen soll.

■ Informationen unter www.greekfestival.gr