: Er suchte nach den Gemeinsamkeiten der Völker
25 Jahre reiste Adolf Bastian durch die Welt: Kein Ethnologe besuchte mehr Völker und sammelte mehr Zeugnisse ihrer Kulturen. Doch die Expeditionen des Begründers des Völkerkunde-Museums wurden vergessen. 100 Jahre nach seinem Tod zeigt eine Ausstellung Bastians Wirken
VON LAURA IGLESIAS SAN MARTIN
Alle Kulturen haben gemeinsame Wurzeln. Aber durch den Kontakt mit Fremden entwickeln sich einige schneller als andere. Davon war Adolf Bastian überzeugt, der im Jahr 1873 das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin gründete. Ein Drittel seines Lebens reiste er durch die Welt auf der Suche nach dem gemeinsamen Ursprung des menschlichen Denkens. Auf seinen abenteuerlichen Expeditionen besuchte Bastian mehr Völker und sammelte mehr Zeugnisse ihrer Kulturen als irgendein anderer Ethnologe: vor allem Dinge des täglichen Gebrauchs wie Schalen und Töpfe, aber auch religiöse Symbole, etwa Fetischfiguren aus Afrika und buddhistische Schriften aus Birma, und Kunstwerke. Durch diesen Sammeleifer entstand ein Museum, das noch heute eines der bedeutendsten seiner Art ist. Bis Ende Mai zeigt das Ethnologische Museum Gegenstände, die Bastian aus aller Welt mitbrachte: Es sind Zeugnisse der rastlosen Suche eines utopischen Universalisten.
Obwohl Bastian das Museum für Völkerkunde gründete und die deutsche Ethnologie an die Universität brachte, kennen ihn heute nur noch Ethnologen und eine Hand voll Spezialisten. Seine Arbeiten werden kaum noch beachtet, seine Reiseberichte sind in Vergessenheit geraten. Schuld daran sind zum Teil seine Schriften – langatmig und schwer verständlich, voll von endlosen Nebensätzen und entlegenen Fremdwörtern.
Heutige Ethnologen belächeln ihn außerdem, weil er nicht versucht hatte, die Sitten der von ihm besuchten Völker anzunehmen oder einer der ihren zu werden. Auf Reisen zeigte sich Bastian eher wie eine Art aufgeklärter Tourist oder Bildungsreisender, der möglichst viele Andenken erwerben und weiterziehen wollte. Auch dieses schier uferlose Sammeln wird heute belächelt, in einer Zeit, in der das bloße Ausstellen von Ethnographica nicht mehr ausreichend scheint. Das Ziel Bastians war jedoch nicht, Gegenstände als Raritäten oder Kunstwerke zu erwerben, sondern Zeugnisse der gemeinsamen Wurzeln aller Völker zu bewahren.
Zwischen Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hätte man den kauzigen Dauerreisenden so ziemlich überall antreffen können, außer in den damals von Menschen noch unberührten Polargebieten. Er war 24 Jahre alt und gerade Doktor der Medizin geworden, als er 1850 für seine erste Expedition als Schiffsarzt anheuerte. Sie dauerte acht Jahre und sollte ihn um die ganze Welt führen. 1861 brach er wieder auf. Bastians Berliner Kollegen gewöhnten sich mit der Zeit an seine Abwesenheit und wussten selten mit Gewissheit, wo er sich gerade befand. Zu seiner neunten und letzten großen Reise um den Globus schiffte er sich mit 77 Jahren ein. Zwei Jahre später, im Februar 1905, erkrankte und verstarb er auf der Insel Trinidad. Dort beerdigte man ihn anonym. Bastians Überreste wurden acht Monate später nach Berlin überführt. Heute ist er auf dem Stahnsdorfer Südwestfriedhof beigesetzt, im Wedding erinnert eine Straße an ihn.
Von seinem Vater, einem reichen Bremer Kaufmann, erbte Bastian ein Vermögen, das ihm das lebenslange Reisen ermöglichte. Trotzdem brach er immer nur mit dem Notwendigsten auf: Er war ein Asket, der sich am Ende seines Lebens überwiegend von Reis ernährte, seine Berliner Sechszimmerwohnung fast leer stehen ließ und nie heiratete. Während seiner letzten Aufenthalte in Berlin lebte er immer isolierter. Er wohnte zuletzt am Hafenplatz 4 am Mendelssohn-Bartholdy-Park, nicht weit vom Gebäude des Königlichen Museums für Völkerkunde, das an der heutigen Stresemannstraße, Ecke Niederkirchnerstraße lag.
Gegen Ende seines Lebens war Bastian vor allem auf das Museum und auf das Schreiben immer konfuserer Texte konzentriert. Ingesamt veröffentlichte er mehrere hundert Arbeiten: Bücher, Artikel und Vorträge zu ethnologischen, religiösen, geografischen, philosophischen und sprachlichen Themen.
Auf Reisen war er ein ganz anderer, ein genussvoller Mensch. Unentbehrlich war für ihn dann das tägliche Baden in den Meeren, Seen und Flüssen, an denen sein Weg vorbeiführte – damals noch eine seltsame Neigung. So berichtete Bastian während seiner Reisen in Afrika über das Misstrauen der Portugiesen gegenüber dem Meer. In Lateinamerika betrachteten ihn Einheimische verwundert dabei, wie er sich Kopf und Rücken begoss, und erkundigten sich fürsorglich: „Tut das nicht weh?“ In einem Land wie Birma, in dem auch damals schon oft gebadet wurde, sah man mit Überraschung, dass Bastian auch seinen Kopf immer wieder untertauchte. Man erklärte ihm, dass ein zu häufiges Baden des Kopfes das Denken beeinträchtigen könne.
Mit Anfang 30 hatte Bastian die Gelegenheit, sich einen alten Traum zu erfüllen: eine Reise an die Westküste Afrikas. Aus den portugiesischen Kolonien wollte er in das Innere des Kontinents vordringen – in Gebiete, die nie zuvor ein weißer Forscher durchquert hatte. Dort hoffte er Gegenstände von unbekannten schriftlosen Kulturen finden, deren Wert er mit den überlieferten schriftlichen Zeugnissen der Hochkulturen verglich.
Im Gegensatz zu damaligen Anthropologen, die die so genannten „Wilden“ als minderwertig einstuften, schrieb Bastian allen Ethnien die gleichen genetischen Voraussetzungen zu und betrachtete sie als von Natur aus gleichwertig. Er war davon überzeugt, dass die Entwicklung im Innern Afrikas vor allem durch den Mangel an Straßen und Schifffahrtswegen gestört worden war. Eine andere Ursache für die Abschottung Zentralafrikas sah er in der Sklaverei, denn er erlebte, wie die Sklavenhändler den Kontakt zwischen Dörfern behinderten, um ungestört Menschen jagen zu können.
Mit dem Ziel, deutsche Forscher in jene unbekannten Gebiete zu schicken, gründete der unermüdliche Weltkundschafter in Berlin 1872 die Gesellschaft für die Erforschung des Äquatorialen Afrikas. Auch er selbst reiste wieder dorthin. Wie geheimnisvoll das Innere des Kontinents damals noch war, zeigen die Legenden, die ihm an der Küste erzählt wurden. Bastian hörte von Männern mit Schwänzen, die nur Stühle mit einem Loch in der Mitte benutzen konnten, und von Menschen mit riesigen Köpfen, die, wenn sie einmal hinfielen, nicht mehr alleine aufstehen konnten. Daher würden sie, so wurde ihm zugetragen, immer eine Pfeife bei sich tragen, um jemanden zu Hilfe rufen zu können. Bastian hörte auch Geschichten von Blattmännern, die keine Kleidung trugen und sich mit der gestreckten Haut ihres Bauches bedecken konnten.
Seine Expedition brachte allerdings nicht den erhofften Erfolg, nicht zuletzt wegen des hohen Tributs, den viele Stämme für den Durchzug durch ihr Gebiet forderten. Trotzdem konnte er zahlreiche Objekte für das Museum in Berlin erwerben. Viele sind jetzt in der Ausstellung des Museums über Bastian zu sehen.
Bastians Reisen in den Jahren 1875 und 1876 durch Peru, Ecuador, Kolumbien und Guatemala waren noch stärker dem Sammeln gewidmet. Um seine Ziele zu erreichen, war Bastian bereit, hohe Risiken einzugehen: So durchquerte er in Ecuador das Ödland von Azuay, einer der schwierigsten und gefährlichsten Wege des Landes, auf dem schon viele Reisende umgekommen waren, nur weil er in der Nähe der Stadt Cuenca interessante Bronzeäxte vermutete. Im Dorf Azogues, in der vergessenen Truhe eines Kaufmannes, fand er die ersehnten Äxte, wählte um die 70 aus und schiffte sich mit ihnen nach Guayaquil ein. Sein Erwerb geriet aber in Gefahr, als das Schiff zu kentern begann.
Als er den Vorschlag vernahm, Last über Bord zu werfen, erwiderte er sofort, dass es viel besser wäre, die Schafe über Bord zu werfen, da sie sich vielleicht selber retten könnten. Er nahm seinen Revolver, ließ die Äxte nicht mehr aus den Augen und organisierte eine Menschenkette, um das Wasser aus dem Bug zu schöpfen. Er rettete Passagiere und Äxte, und deswegen sind einige jener Äxte jetzt ebenfalls in der Ausstellung über Bastian zu sehen.
Den bedeutendsten Fund seiner lateinamerikanischen Reisen machte Bastian in Santa Lucía, einer Stadt in Guatemala. Ein dort ansässiger Kommandant hatte acht große Reliefs sowie mehrere Steinköpfe im bis dahin unbekannten prähispanischen Cotzumalhuapa-Stil gefunden und auf sein Landgut bringen lassen. Bastian erkannte sofort die Einzigartigkeit der Reliefs und konnte sie dem Kommandanten abhandeln. Nach einer Transportzeit von fünf Jahren erreichten die ersten das Berliner Museum für Völkerkunde – nur eines der Reliefs fiel bei der Verschiffung am Hafen von San José ins Meer, wo es immer noch in einer Tiefe von 60 Fuß liegt. Die übrigen stehen heute am Eingang der Säle für Amerikanische Archäologie und gelten als eine der wertvollsten Sammlungen des gesamten Museums.
Die Sammelleidenschaft Bastians und sein Instinkt für kulturell wertvolle Fundstücke sind bis heute unübertroffen. Man kann in ihm den Vorläufer eines utopischen Universalismus sehen. Seine Absicht, das Gemeinsame in allen Kulturen zu suchen und zugleich das, was sie einzigartig macht, zu bewahren und zu erforschen, war vor hundert Jahren erstaunlich fortschrittlich. In einer Welt, deren wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung rapide voranschreitet und die darum immer mehr auf die Bewahrung kultureller Identitäten drängt, wirkt Bastians rastlose Suche nach Gemeinsamkeiten und unverwechselbaren Einzigartigkeiten unterschiedlicher Kulturen heute zeitgemäßer denn je.
Sollten nach einem eventuellen Wiederaufbau des Berliner Schlosses die Sammlungen der Humboldt-Universität und der Zentralen Bibliothek Berlins sowie die außereuropäischen Kollektionen von Dahlem dort eine neue gemeinsame Heimat finden, wird ein monumentaler Tempel für vergleichende Studien der Menschheit mitten in Berlin entstehen. Und wer weiß, ob es nicht genau das ist, was Bastian sich dereinst bei der Gründung des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin gewünscht hatte.
Die Ausstellung im Ethnologischen Museum in der Lansstraße 8 in Dahlem läuft noch bis zum 29. Mai. Geöffnet ist täglich außer Montag von 10 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr