: Lieber nicht
Wahlkampf um EU-Verfassung: Frankreich spekuliert, ob Präsident Chirac ein TV-Interview mit Kommissionspräsident Barroso verhindert hat – aus Angst, der Auftritt würde das Nein-Lager stärken
Aus Paris Dorothea Hahn
Das Programm war von langer Hand geplant und längst in den ganz großen Verteiler gegangen: Am 21. April sollte der fließend Französisch sprechende portugiesische Präsident der EU-Kommission, José Manuel Durao Barroso, als Gast zur besten Sendezeit in dem wichtigsten Politmagazin des staatlichen TV-Senders France 2 auftreten: In „100 minutes pour convaincre“ – 100 Minuten, um zu überzeugen – wollte er den Franzosen seine Vision von Europa erklären. Dann kam der Eklat: Der Chef des Senders, Marc Tessier, lud den hochkarätigen Gast kurzerhand wieder aus. Dieser Schritt sei „unvermeidlich“ geworden, begründete Tessier den Vorgang: Wenige Wochen vor dem Referendum in Frankreich sorge Barrosos Auftritt für „Polemik“.
Nicht genannte Zeugen
Das Auftrittsverbot für den obersten Repräsentanten der Europäischen Union im staatlichen französischen Fernsehen riecht nach Zensur von alleroberster Stelle. Staatspräsident Jacques Chirac persönlich soll dafür gesorgt haben, dass jemand aus dem Umfeld seines Regierungschefs bei France Télévision für ein Absetzen des Programms interveniert. So berichtet das keineswegs linker Sympathien verdächtige Wochenblatt Express. Und so will es auch die liberale Tageszeitung Le Monde wissen. In ihrer gestrigen Ausgabe schrieb Le Monde von nicht namentlich genannten „Zeugen“, die Chirac beim EU-Gipfel in Brüssel am Morgen des 22. März gehört haben wollen, während er dieses Anliegen persönlich gegenüber zwei Personen formulierte.
Unverschämtes Anliegen
Der Elysée-Palast hat ein Eingreifen bei dem Fernsehsender förmlich dementiert. Und auch der TV-Chef Tessier, der sich im Sommer um eine Verlängerung seines Mandats an der Spitze des Senders bewirbt, erklärt, er habe den Gast aus eigener Initiative ausgeladen. Aber am Sitz des Regierungschefs, von wo aus die letztliche Intervention bei dem TV-Sender gekommen sein soll, schweigen sie. Fest steht, dass Tessier am Nachmittag des Brüsseler Gipfeltages bei dem EU-Kommissionschef anrief, um ihn auszuladen. Und dass er ihm sein unverschämtes Anliegen wenige Tage später schriftlich bestätigt hat.
Dorn im Auge
Chirac wütet gegen Barroso, weil der Portugiese, der vor zwei Jahren den Krieg gegen den Irak verteidigt hat, nicht den geringsten Hehl aus seinen neoliberalen wirtschaftlichen Plänen in der EU macht. Mitte März verteidigte Barroso sogar die Bolkestein-Richtlinie. Diese Richtlinie, die es möglich machen soll, Dienstleistungen überall in der EU zum Dumping-Preis der östlichen Billiglohnländer anzubieten, ist den Franzosen ein Dorn im Auge. Die GegnerInnen des EU-Verfassungsvertrages benutzen sie als Argument, um zu zeigen, wie miserabel es um die soziale Zukunft in der EU bestellt wäre, wenn die Verfassung in Kraft treten würde. Da das Lager der GegnerInnen des EU-Verfassungsvertrages ständig wächst, sorgte Chirac im März in Brüssel dafür, dass diese Richtlinie vorerst auf Eis gelegt wird.
Bei France Télévision sorgt die Ausladung von Barroso für Aufregung in der Redaktion. Die Personalvertreter im Verwaltungsrat wehren sich gegen eine „seit Jahrzehnten nicht dagewesene Einmischung in die Unabhängigkeit“ ihrer Arbeit. Und die Gewerkschaften versichern: „Unsere Redaktion hat damit nichts zu tun.“
Das Nein-Lager wächst
Die GegnerInnen des EU-Verfassungsvertrages in Frankreich lassen sich weder durch das Auf-Eis-Legen der umstrittenen EU-Richtlinie, noch durch die Zensur oder Selbstzensur des Barroso-Auftritts beeindrucken. In den letzten vier Umfragen lag ihre Zahl ständig über 50 Prozent. Anfang dieser Woche meldete eine Umfrage, gegenwärtig wollten 55 Prozent der FranzösInnen beim Referendum am 29. Mai mit „Non“ stimmen. Dennoch bedauern die – mehrheitlich linken – VertragsgegnerInnen, dass der Rechtsliberale Barroso nicht kommt. Im Gegensatz zu den französischen VertragsbefürworterInnen spricht er immerhin offene Worte. Sein Auftritt hätte tatsächlich dem „Non“ genutzt.