Schatzkammer des Wissens

Ein von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach herausgegebener Sammelband beschreibt die Entstehung der Wissensgesellschaft

VON JAKOB VOGEL

Nicht erst seit Horst Köhler das „Fitmachen“ Deutschlands für die „Wissensgesellschaft“ zur zentralen Agenda seiner Amtszeit als Bundespräsident erhoben hat, steht „Wissen“ im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Da passt es gut, dass auch die Historikerzunft nicht hinten ansteht und die Debatte mit einem dickleibigen Buch über die „Entstehung der modernen Wissensgesellschaft“ in der Zeit vom 15. bis ins frühe 19. Jahrhundert bereichert. Der opulent ausgestattete Band des jüngst verstorbenen Saarbrücker Historikers Richard van Dülmen und seiner Kollegin Sina Rauschenberg hat alle Qualitäten eines staatstragenden Werkes: eine eindrucksvolle Zahl anerkannter Autoren, eine aufwändige Bebilderung und eine klar umrissene These über die Geburt der Wissensgesellschaft aus dem Geist der frühneuzeitlichen Wissenschaften.

In der Art einer Schatzkammer des Wissens ähnlich jenen, die bereits die Fürstenhöfe des Barocks zierten, wird dem Leser (und Betrachter) die ganze Pracht der wissenschaftlichen Betätigung zwischen Renaissance und Revolutionszeitalter präsentiert. Von der allmählichen Lösung der Wissenschaft aus dem kirchlichen Umfeld über die Eroberung des Himmels durch die Astronomie bis hin zur Popularisierung der aufgeklärten Wissenschaften in Lesegesellschaften und Zeitschriften der Aufklärung spannt sich der bunte Bogen, der kaum einen Bereich der gelehrten Beschäftigung der Frühneuzeit unerwähnt lässt. Selbst Architektur und Musik erweisen sich als Felder der akademischen Reflexion, die unter dem Einfluss des mathematischen Denkens auch die klassischen Künste erfasste.

Vor all dem Reichtum des ausgebreiteten Wissens mag jede Kritik blass und missgelaunt erscheinen. Denn tatsächlich hält der Band eine ganze Reihe von Juwelen bereit, von denen hier nur die beiden exzellenten Beiträge zur Durchsetzung der ärztlichen Autorität in der frühneuzeitlichen Heilkunst von Michael Stolberg und Bettina Wahrig sowie der Artikel von Wolfgang Behringer über Wunder, Besessenheit und Hexerei im wissenschaftlichen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts herausgehoben seien. Dass gerade die Aufsätze der beiden Herausgeber nicht zu den stärksten Texten des Buches gehören, die Geschichte der Alchemie längst mehr zu bieten hat als einen Forschungsstand der Achtzigerjahre, mag man angesichts der eindrucksvollen Fülle der von ihnen zusammengetragenen Kostbarkeiten auch gerne in Kauf nehmen.

Mehr noch irritiert aber der lobpreisende Ton einer Erfolgsgeschichte der neuzeitlichen Wissenschaft, der Einleitung und Zwischentexte, die Verlagswerbung ebenso wie auch eine Reihe von Beiträgen durchzieht. Manche wichtige Nuancierungen und kritische Fragen, die an anderen Stellen des Bandes durchaus auftauchen, werden damit an den Rand gedrängt: die esoterischen Tendenzen beispielsweise, die noch in der Zeit der Aufklärung in vielen Bereichen die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur prägten und – etwa im Gedanken einer einheitlichen physikalischen „Weltformel“ – bis heute nicht aus den Naturwissenschaften verschwunden sind, oder das weit reichende praktische Wissen der frühneuzeitlichen Handwerker und „Wissensunternehmer“, das außerhalb der akademischen Wissenschaft weitergegeben wurde und deren Erkenntnissen teilweise weit überlegen war. Ebenso verschwimmt unter dem von den Herausgebern bemühten Banner des „neuen Wissens“ der problematische „wissenschaftliche“ Status vieler Theorien und Gedanken der frühneuzeitlichen Gelehrten, die sich kaum von einem verbrämten Alltagswissen abhoben. In der neueren Wissenschaftsgeschichte hat dies längst dazu geführt, dass die Rede über die „Entstehung der modernen Wissenschaft“ und von der „wissenschaftlichen Revolution“ der Frühneuzeit stets mit einem großen Fragezeichen versehen wird.

Wie komplex demgegenüber die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Praxis in der Frühneuzeit waren, wie nah sich akademische Gelehrsamkeit und Jahrmarktszauber stehen konnten und wie eng höfische Neugierde und die Geburt einer „Modewissenschaft“ noch in der Zeit der Aufklärung zusammenhingen, hat Oliver Hochadel in seiner wegweisenden Studie über die öffentliche Zurschaustellung der Elektrizität im 18. Jahrhundert vorgeführt. Um Vorführungen und Experimente der ebenso auf Wochenmärkten wie auf den Soireen der besseren Gesellschaft auftretenden Elektrisierer und ihre Dispute mit den um ihren Einfluss als Experten fürchtenden Professoren nachzuzeichnen, musste der Historiker allerdings die Welt der gelehrten Studierstuben und Bibliotheken verlassen, welche allzu oft die Geschichtsschreibung über die frühneuzeitliche Welt des Wissens prägt. Erst das Hinabsteigen in die Tiefen der Stadt- und Provinzarchive eröffnet dem Leser aber die faszinierende Vielfalt einer öffentlichen Beschäftigung mit der Elektrizität im 18. Jahrhundert. Nicht zuletzt vermag Hochadel auf diese Weise zu zeigen, dass ihr anschaulichstes Objekt, der Blitzableiter, seinen Siegeszug in der Gesellschaft der Aufklärung tatsächlich nur sehr bedingt dem wohltätigen Einfluss der „modernen Wissenschaften“ zu verdanken hatte.

Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hg.): „Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft“. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2004, 742 S., 64,90 EuroOliver Hochadel: „Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung“. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 364 S.,35 Euro