: Unsterblicher Fischschwanz
Ein Dichter, der sich für sexuelle Enthaltsamkeit und ein Dasein in kindlicher Unschuld entschied und dessen Lebensmotto war: „Es macht nichts, im Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!“ Zum 200. Geburtstag des Märchenkünstlers Hans Christian Andersen
VON KATHARINA GRANZIN
Er glaubte an die Unsterblichkeit. In seinen Märchen hat der Tod nichts Erschreckendes, ist lediglich ein – wenngleich oft dramatischer – Übertritt in eine andere Daseinsform. Die kleine Meerjungfrau, die sich aus enttäuschter Liebe in den Tod stürzt, wird fortan zu einer Tochter der Lüfte und darf sich eine unsterbliche Seele verdienen. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, das vor dem Haus reicher Leute erfriert, hat, während sie ein Hölzchen nach dem anderen abbrennt, die wunderbarsten Visionen: „Großmutter war früher nie so schön, so groß gewesen; sie hob das kleine Mädchen auf den Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch dahin; und dort war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst, sie waren bei Gott.“
Doch beim Gedanken an den eigenen Tod kamen Hans Christian Andersen durchaus manchmal Zweifel an seinem trostreichen Kinderglauben. So war er dankbar, als Gott ihm ein klares Zeichen sandte. An einem frostigen Wintertag, so beschreibt er es in seiner Autobiografie, hatte er mit dem Spazierstock einen spontanen Zweizeiler in den Schnee geritzt: „Unsterblichkeit ist wie der Schnee, / Morgen schon ich nichts mehr davon seh!“ Am nächsten Morgen war der Schnee geschmolzen – bis auf das Wort „Unsterblichkeit“, das nach wie vor zu lesen war.
Unsterblich ist er jedenfalls geworden. Er ist der berühmteste Däne, der je gelebt hat, und der zweitmeistgedruckte Autor der Welt, gleich nach dem Urheber der Mao-Bibel. Und seine Märchen sind so lebendig wie eh und je, sind zahllose Male kopiert, dramatisiert, paraphrasiert, zitiert und natürlich immer wieder verfilmt worden. Die kleine Meerjungfrau lässt als Arielle bei Disney die Kassen klingeln, und das Mädchen mit den Schwefelhölzern arbeitet als sehr heutige Reinkarnation bei Aki Kaurismäki in der Streichholzfabrik. Sie sind eingegangen in das kulturelle (Unter-)Bewusstsein der Welt – während das Bewusstsein für ihren Urheber geschwunden ist. Außerhalb Nordeuropas jedenfalls wüssten wohl nicht viele zu sagen, wer Hans Christian Andersen war, wann und wo er ungefähr lebte und welche Märchen genau er geschrieben hat. Aber die von ihm geschaffenen Figuren, sei es nun die Prinzessin auf der Erbse, das hässliche Entlein, der standhafte Zinnsoldat oder die Schneekönigin – die kennt man fast überall.
Andersen bediente sich durchaus freimütig aus den Märchen und Sagen, die er als Kind gehört oder als Erwachsener irgendwo gelesen hatte. Das Sujet vom Kaiser und den neuen Kleidern etwa stammte aus einem Band spanischer Märchen, den er auf einer seiner vielen Reisen in Paris gekauft hatte. Doch je größer Andersens Erfolg als Autor von Märchen, desto mehr verarbeitete er auch sein eigenes Leben darin. Auf Reisen in Deutschland, dem Land, in dem er am meisten geschätzt wurde, trug er wie eine Visitenkarte die Geschichte vom hässlichen Entlein mit sich herum und las sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor; denn in dem verkannten Schwanenküken wollte er die eigene Lebensgeschichte verkörpert wissen.
Der Satz „Es macht nichts, im Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!“ kann als sein Lebensmotto gelesen werden. Der Dichter, der in bitterster Armut aufgewachsen war, als Erwachsener aber bei Fürsten, Königen und der intellektuellen Hautevolee Europas ein und aus ging, war unbändig stolz auf das Erreichte, litt jedoch zeit seines Lebens darunter, ausgerechnet in seinem Heimatland nicht bedingungslos verehrt zu werden.
Der schwindelerregende Aufstieg des armen Schustersohnes ist in der Tat märchenhaft. Als er am 2. April 1805 im Städtchen Odense zur Welt kam, waren seine Eltern obdachlos, so dass nie letztgültig geklärt werden konnte, wo Andersen genau geboren wurde – wahrscheinlich jedoch nicht in dem Häuschen, das allgemein als „Andersens Geburtshaus“ gilt. Der Vater, ein intelligenter und freidenkender Mann, hasste sein elendes Schusterdasein und förderte den Sohn nach Kräften, damit der es einmal besser habe. Doch Hans Andersen starb, als der Junge elf Jahre alt war, und die Mutter schlug sich mit dem Kind kläglich durch, bis es ihr gelang, sich erneut zu verheiraten. Mit vierzehn flüchtete Hans Christian aus Odense und ging nach Kopenhagen, um als Schauspieler berühmt zu werden. Zu seiner Mutter, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes im Armenhaus landete, pflegte er während seines Erwachsenenlebens ein distanziertes Verhältnis. Anne Marie Andersdatter starb 1833 im Delirium tremens.
Der Vierzehnjährige, dessen geringe Ersparnisse durch die Fahrt in die Hauptstadt restlos aufgezehrt worden waren, klopfte an die Türen reicher Bürger, um in ihren Salons Vorstellungen zu geben, bei denen er sang, tanzte und aus dem Stegreif deklamierte. Mit Hilfe seiner Gönner konnte er gerade so eben überleben, doch die große Erfolgsgeschichte lief insgesamt sehr mühsam an. Die Ballettschule des Königlichen Theaters musste der Teenager nach kurzer Zeit wegen mangelnder Begabung wieder verlassen. Er beschloss daher, Dichter zu werden. Erste dramatische Versuche, die er zur Aufführung am Theater einreichte, wurden zwar abgelehnt. Dafür fand er im Finanzbeamten und Theaterdirektor Jonas Collin seinen einflussreichsten Förderer, der sogar den König überzeugen konnte, den Jungen auf Kosten der Staatskasse zur Schule zu schicken, um dessen wild wuchernder Begabung eine solide Grundlage zu verschaffen. Damit begann die lebenslange Freundschaft zwischen Andersen und der Familie Collin, ohne die es den weltberühmten Dichter Andersen wohl nie gegeben hätte. Diese Ansicht vertritt jedenfalls der dänische Literaturwissenschaftler Jens Andersen (mit H. C. nicht verwandt) in seiner gerade auf Deutsch erschienenen Andersen-Biografie. Jens Andersen beschreibt eine familiäre, doch nicht spannungsfreie Beziehung, die wohl auch unter dem allzu leidenschaftlichen Verhältnis des Dichters zum eigenen Geschlecht litt.
Bevor Andersen als Märchendichter berühmt wurde, hatte er schon etliche Romane und Dramen geschrieben. Er war bekannt, doch keineswegs unumstritten. Viele seiner Werke kreisten um die Identität des Künstlers, fast immer jedoch auch um Fragen der geschlechtlichen Identität und zogen daher – vor allem in Dänemark; in Deutschland wurden Andersens Romane sehr viel wärmer aufgenommen – viel Kritik auf sich. Das Zeitalter der Romantik war durchaus tolerant in Bezug auf innige Männerfreundschaften, doch Andersen übertrat in den Augen der Zeitgenossen, zumal der Collin’schen Sippe, in seinen schriftlichen Äußerungen allzu häufig die Grenze zwischen erlaubter Innigkeit und verbotener Erotik. Unzählige Male musste Andersen sich ermahnen lassen, das „Weibliche“ in sich zu bekämpfen und sich endlich wie ein richtiger Mann zu benehmen. „Wir, Ihre Freunde hier zu Hause, können es – ein für alle Mal – nicht leiden, dass sich Männer küssen […]“, schrieb Edvard, der Sohn Jonas Collins, einem schwärmerischen Andersen nach Weimar, der dort eine zärtliche Freundschaft zum Erbgroßherzog Carl Alexander pflegte und in Briefen nach Hause naiv mit seiner Popularität prahlte. Andersen verliebte sich oft, in Männer wie in Frauen, meist aber in Männer. Seine Schwärmereien für das andere Geschlecht, meint sein Biograf, seien stets eher geistiger Natur gewesen, während ihn beim Anblick eines hübschen Männerbeins durchaus die fleischliche Begierde durchflammen konnte. Mit ziemlicher Sicherheit jedoch blieb Andersen zeit seines Lebens Jungfrau. Er heiratete nie, hinterließ, als er siebzigjährig starb, sein Vermögen Edvard Collin und wurde im Collin’schen Familiengrab beigesetzt.
Auch in seine Märchen hat des Dichters sexuelles Dilemma Eingang gefunden. Sein wohl berühmtestes und berührendstes Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ setzt diesen existenziellen Konflikt in starke Bilder um. Die Meerjungfrau ist mit einem Unterleib geboren worden, mit dem sie niemals auf die Erfüllung dessen hoffen kann, was sie sich am meisten wünscht: von einem Menschen geliebt zu werden. In ihrer Sehnsucht, dem geliebten Prinzen näher zu kommen, ist sie bereit, für zwei richtige Beine auf das Kostbarste zu verzichten, das sie besitzt – ihre herrliche Stimme. Damit aber verliert sie genau jene Gabe, die es ihr ermöglicht hätte, die Liebe ihres Prinzen zu wecken. Die Geschichte endet bekanntlich tragisch.
Für Andersen selbst lief es etwas anders. Der Dichter entschied sich, in die Bilder des Märchens übersetzt, für den Fischschwanz, das heißt für lebenslange sexuelle Enthaltsamkeit und ein Dasein in kindlicher Unschuld. Seine „herrliche Stimme“ dagegen entwickelte sich umso glanzvoller. Und möglicherweise verdanken sich ja gerade Andersens großem existenziellem Dilemma einige der schönsten Märchen der Welt. Denn diesem Autor ist etwas wirklich Einzigartiges gelungen, das die übliche Unterscheidung zwischen Volksmärchen (die mündlich tradiert worden sind) und Kunstmärchen (die einen einzigen Urheber haben) aufgehoben hat. Seine Märchen, als Kunstmärchen entstanden, sind mittlerweile, durch die abertausendfache Tradierung in allen nur denkbaren Kunstformen, zu Volksmärchen geworden. Mehr als irgendein anderer Autor vor oder nach ihm scheint Andersen beim Schreiben Zugang zum eigenen Unbewussten gehabt zu haben. Und hat damit häufig genug etwas getroffen, was so universell ist, dass es überall in der Welt verstanden wird. Über diese eigentümliche Ursprünglichkeit seiner Kunst schrieb ein dänischer Ethnologe vor fast hundert Jahren: „Weil eine seiner Gehirnhälften die eines Papuanegers ist, kann er dichterisch genau das hervorbringen, was das menschliche Geschlecht in seinen ersten Kindertagen dichtete: Märchen.“
Andersen-Literatur, u. a.: „Märchen“. Aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt. Mit Bildern von Nikolaus Heidelbach. Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 2004, 375 S., 38 € Jens Andersen: „Hans Christian Andersen. Eine Biografie“. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Insel, Frankfurt/Leipzig 2005, 800 S., 28 € Sabine Friedrichson/Hans Christian Andersen: „Das Leben ist das schönste Märchen.“ Beltz & Gelberg, Weinheim/Basel 2005, 19,90 €