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Archiv-Artikel

Das Selbst für den Notfall

PERSÖNLICHKEIT Klassik oder Rap? Milchreis oder Gulasch? Im Fall, sich nicht mehr mitteilen zu können, hilft der Ich-Pass

Der Ich-Pass

 Das Produkt: Laut Erfinderin ist der Ich-Pass „irgendetwas zwischen Patientenverfügung und Biografie“. Das 20-seitige Heft beginnt mit „Ich heiße“ und endet mit „Anmerkungen von Menschen, die mir etwas bedeuten“. Es kostet 6 Euro, Sigrid Hofmaier verschickt das Heft: www.ich-pass.de

 Das Phänomen: Besonders in der Arbeit mit Demenzkranken gewinnen Informationen zu Vorlieben und Vergangenheit des Patienten in den letzten Jahren an Bedeutung. Dazu gibt es auch bereits Biografieerfassungsbögen.

VON LUISE STROTHMANN

Es sind die Palmen, die die Patientenverfügung zum Poesiealbum machen. Auf dem Foto, rechts neben der Zeile „Meine Unterlagen und persönlichen Dinge ordnen soll …“ versinkt die Sonne im Meer. Postkartenpoesie mit allem, was dazugehört: dunkelblauer Himmel, Wolkenfetzen, Palmwedel, die seitlich ins Bild ragen, und ein letztes Aufglühen am Horizont. Die vorgedruckten Zeilen daneben hat Heike Kern mit ihrem Federhalter ausgefüllt. „Entwürdigend finde ich“, hat sie mit blauer Tinte hingeschrieben, „wenn ich allein in einem Krankenhaus sterbe.“

Heike Kern ist 69 Jahre alt, sie lebt in Eichstetten am Kaiserstuhl und war früher Kindergartenleiterin. Seit drei Monaten steht das auch in ihrem Ich-Pass. Das handgroße Heftchen hat sie sich bei der Freiburger Texterin Sigrid Hofmaier bestellt, „Biografie im Passformat“ nennt es die Erfinderin. Ihre Idee: Mithilfe von Poesiealbumsfragen – etwa nach dem Lieblingsduft, der Lieblingsmusik, geliebten Menschen – kann der Passinhaber seine Persönlichkeit, seine Vorlieben und Aversionen festhalten. Zum Beispiel um zu verhindern, als Demenzpatient mit dem verhassten Milchreis gefüttert zu werden.

Die Idee mit dem Ich-Pass kam Sigrid Hofmaier nach einem Krankenhausbesuch bei ihrem Vater. Der Rundfunksprecher und Schauspieler lag im Koma, er reagierte auf akustische Reize – aber niemand hatte ihm einen Kopfhörer aufgesetzt. Natürlich nicht, denn keiner der Pfleger kannte seine Lieblingsmusik. Zu Hause hat sie dann den Ich-Pass entworfen.

Duschen oder baden?

Heike Kern, die den Ich-Pass für sich selbst gekauft hat, war „erst mal überhaupt nicht überzeugt. Ich habe gedacht, wieder irgendwas, das sich irgendjemand ausgedacht hat.“ Aber dann fiel ihr ihre Ostpreußin ein.

Heike Kern arbeitet stundenweise in einer Tagesgruppe für Demenzkranke. Über eine 82 Jahre alte Teilnehmerin hatte sie erfahren, dass sie aus Ostpreußen stammt. Kern kannte ein altes Gedicht im Dialekt und sagte es auf. Die Frau, die sonst kaum auf ihre Umwelt reagierte und lange kein Wort gesprochen hatte, strahlte plötzlich, sah sie an und sagte: „Noch mal.“ „Das war eben etwas Sinnliches aus ihrer Vergangenheit“, erklärt Heike Kern.

Biografische Erhebungsbögen gibt es in der Arbeit mit Demenzkranken schon lange. Gerade hat die Deutsche Alzheimergesellschaft noch einmal 15.000 Exemplare ihres empfohlenen Vordrucks an Krankenhäuser, Angehörigengruppen und ambulante soziale Dienste geschickt.

„Es kann zum Beispiel schon helfen, zu wissen, ob jemand sein Leben lang geduscht oder gebadet hat“, erklärt Michael Noske, der in Güstrow ein Pflegeheim für Demenzkranke leitet. Um solche Dinge zu erfahren, gibt Noske den Angehörigen von neuen Bewohnern einen fünfseitigen Fragebogen mit nach Hause.

Aber viele kennen gar nicht das Lieblingsgericht ihrer Mutter. „Etwa fünfzig Prozent können ausführliche und gute Angaben machen“, sagt Noske, die anderen wissen nur noch wenig über den Alltag ihrer Angehörigen. Kürzlich hat er einen Stapel Ich-Pässe bestellt und Familienmitgliedern gegeben, die Demenzpatienten zu Hause pflegen. Da hat ihn die Tochter einer Patientin gefragt, ob sie das Heft auch für sich selbst ausfüllen könne. „Ja, machen Sie das doch“, hat er geantwortet.

Der irre Duft nach Heu

Neben der Angst, sich nicht mehr artikulieren zu können, steckt offenbar ein zweiter Anreiz im Ich-Pass: die Lust, sich selbst zu befragen. „Man möchte etwas über sich selbst herausfinden“, sagt Jens Asendorpf, Persönlichkeitspsychologe an der Berliner Humboldt-Universität. Neben der Pubertät gibt es im Alter eine zweite Phase, in der sich jeder fragt: Wer bin ich? „Während der Berufsjahre geht die Selbstreflexion oft unter“, erklärt der Psychologe, „aber bei vielen kommt mit dem Rentenalter noch mal eine Phase der rückwärtsgewandten Selbstbeschäftigung, die fragt: Wie war das eigentlich?“

Heike Kern fallen in letzter Zeit ständig Sachen auf, die sie mag oder verabscheut. Kürzlich ist sie an einer Wiese vorbeigeradelt. Als sie nach Hause zurückkam, zog sie gleich ihren Ich-Pass aus der Schublade. Auf der dritten Seite fand sie die Kategorie „Meine Lieblingsgerüche und Lieblingsdüfte“. Heike Kern schraubte ihren Füller auf und schrieb: „Gras und Heu.“