: Im Dschungelcamp
Von ferne grüßt Dr. Moreau: Die neue Serien-Robinsonade „Lost“ (Pro7, 20.15 Uhr) besticht mit feinem Grusel und raffinierten Figuren
VON HARALD KELLER
Die 26. Folge der RTL-Serie „Verschollen“ trug den ahnungsvollen Titel „Lebendig begraben“. Und so kam es dann ja auch. Jetzt pariert ProSieben mit „Lost“, einer US-Produktion mit vergleichbarer Thematik, aber entschieden anderer Machart: Wo bei der komplett im Studio gedrehten RTL-Insel-Soap die Pappmascheekulissen knirschten und Teichfolien durch das angebliche Dschungelgewässer schimmerten, drehten die Amerikaner im hawaiischen Oahu im Freien. Allein darin liegt schon ein Unterschied ums Ganze.
Und dann ist der Entwurf von J. J. Abrams („Alias“), Damon Lindelof und Jeffrey Lieber natürlich um einiges ausgepichter. Der Pilotfilm hebt an mit einem Kamerablick auf ein einzelnes Auge. Dieses gehört dem Arzt Jack (Matthew Fox). Er sieht Baumwipfel, schreckt hoch, erinnert sich. Ein gewiefter Kameraschwenk um die eigene Achse, der keine 360 Grad ausmacht und doch bei der Ausgangsperson ankommt, verbildlicht Jacks Entsetzen. Dann erst verstehen wir. Vor ihm öffnet sich eine Absturzstelle – Verletzte, Verwirrte, ein abgetrenntes Düsentriebwerk, das noch immer mit voller Kraft läuft, Schreie, ohrenbetäubender Lärm. Explosionen ereignen sich, glühende Trümmer fliegen durch die Luft.
Es dauert, bis das Chaos gebändigt werden kann. Dann ist Zeit für die persönlichen Dramen. Rückblenden erzählen die Geschichten der Passagiere, immer wieder kommt man zurück zu den Minuten vor dem Absturz, immer wieder sieht man die Szene anders. Vieles bleibt ungewiss, die Autoren sorgen für eine personenbezogene, inhärente Spannung. Selbst die Schauspieler werden, so berichtete Terry O’Quinn, der Darsteller des undurchsichtigen Survival-Experten Locke, gegenüber CNN, immer wieder aufs Neue von der Entwicklung ihrer Figuren überrascht.
Zusätzlich entfaltet sich handfester Horror. Gleich am ersten Abend bemerken die Havarierten, wie etwas Ungeheuerliches sich einen Weg durch den Urwald bahnt. Später kommt es zu teils sehr unerfreulichen Begegnungen mit monströsen Tieren und zu weiteren rätselvollen Ereignissen. Hier diente nicht nur Daniel Defoe als Vorlage, man erinnert auch „Die Insel des Dr. Moreau“ und „Jurassic Park“, zu schweigen von einer Vielzahl ähnlich angelegter und gelagerter B-Movies.
„Lost“ ist sowohl Abenteuer- als auch Dramaserie und erzählerisch auf höchsten Niveau. Hier werden Gefühlszustände nicht, wie in so vielen deutschen Produktionen, schnöde behauptet, sondern sichtbar gemacht. Die zum Zusammenhalt gezwungene kleine Gesellschaft bietet ob ihrer heterogenen Zusammensetzung die Möglichkeit zu regelrechten Diskursen über Themen wie Sterbehilfe, Vorurteile, das altbekannte Motiv von Schuld und Sühne. Auch diese Dinge können spannend sein – wenn man das Handwerk der Fernseherzählung so gut beherrscht wie die Autoren und Regisseure dieser Ausnahmeserie.
Nach dem heutigen, hm, Pilotfilm zeigt ProSieben die weiteren Episoden jeweils montags um 20.15 Uhr.