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Archiv-Artikel

Der Papst und wir

Nie hätte ich gedacht, dass Johannes Paul II. wichtig werden könnte in meinem Leben. Doch plötzlich war er es. Bekenntnisse eines linken Katholiken nach dem Tod des Papstes

VON PHILIPP GESSLER

„Euer Papst ist gestorben“, sagte mir Eckhard, der später Pfarrer werden sollte, evangelischer natürlich, an jenem Morgen. Und ich dachte zuerst, dass er einen Witz macht, denn der neue Papst war doch erst gut einen Monat im Amt. Ich war Messdiener, war mit Eckhard an einer katholischen Schule, geleitet von Franziskanern – wir wussten also auch als Fünftklässler in etwa, um was es ging. Und so ein Papst, der stirbt doch nicht so schnell!

War ich geschockt vor 27 Jahren? Ich glaube nicht, es war alles so fern und ernst. Der Papst gehörte nicht zu meinem Leben. Meine Mutter ging eigentlich nur noch in die Kirche, weil mein Bruder und ich da vorne standen – sie war in einem flämischen Nonneninternat in den 40er-/50er-Jahren zur Schule gegangen, konnte noch die komplette lateinische Messe auswendig und wollte mit dem ganzen Laden nichts mehr zu tun haben. Mein Vater ging als guter Protestant nur einmal im Jahr zur Messe, zu Heiligabend, und seine Hauptsorge war dann die Kollekte: Habt ihr Geld dabei?

Warum also Anteil nehmen? Der Papst war halt tot, dieser lächelnde mit dem seltsamen Namen Johannes Paul I. – und dass dann gut zwei Wochen später wieder einer gewählt wurde, dazu der weiße Rauch aus der Sixtinischen Kapelle, dieses „habemus papam“, was ich als 11-jähriger Lateiner so gerade übersetzen konnte, und die jubelnde Menge, das, okay, war schon ziemlich faszinierend. Doch nie hätte ich gedacht, dass dieser neue Papst, mit dem noch seltsameren Namen Johannes Paul II. irgendwie wichtig werden könnte in meinem Leben, dass er, in gewisser Weise, Teil meines Lebens würde.

Aber er wurde es, und ich glaube, es geht wohl fast allen Enddreißigern so, die diesen Mann von Anfang an und so lange verfolgt haben, medial, wie sich das für unsere Generation gehört: Irgendwie gehört er zu unserem Leben, ob wir ihn mochten oder nicht. Wir rieben uns an ihm, empörten uns über das meiste, was er tat und sagte, bewunderten weniges. Aber kalt ließ er uns nicht – und wenn man, wie ich, zwar katholisch ist und bleiben wollte, aber doch auch links sich fühlte und fühlt, dann litt man die meiste Zeit an diesem Papst. Ebenso, wie man jetzt ein wenig mitlitt, als er starb. Paradoxerweise.

Nun wäre einzuwenden, dass dies eigentlich nicht zu vereinbaren ist: Katholisch sein, also einer eher reaktionären, undemokratischen und meist antiaufklärerischen Institution angehören – und links sein, also progressiv, demokratisch und aufklärerisch gesinnt sein, zumindest dem Selbstbild nach. Mag sein, dass man dazu entweder schizophren oder ein guter Verdränger sein muss. Aber man trifft sie immer wieder, die seltene Spezies der linken Katholiken. Und dies sind, gut augustinisch, die Bekenntnisse von einem: der Papst und ich, besser: der Papst und wir.

Denn anfangs standen wir ihm ja durchaus ein wenig bewundernd gegenüber: Ein Papst, der noch einigermaßen jung ist, der Sport macht, recht locker, charmant ist, sogar mal Witze und Faxen macht, das war etwas Erfrischendes. Jetzt schauten wir nach Rom mit Spannung. Und zu sagen, dass man einer Kirche mit diesem Kopf angehört, war nicht mehr ganz so peinlich. Denn etwas Cooles hatte Johannes Paul II. ja auch ab und zu. Wenn man den Bildern glaubte, was unsere Generation ja tut.

So okkupierte sich also der Papst, dieser ferne Mann in Rom, anfangs einen kleinen Platz in unserem Herzen und einen größeren in unserem Kopf – umso herber war die Enttäuschung, als deutlich wurde, dass man den Bildern eben nicht trauen durfte, dass dieser Mann nach und nach fast alles verriet, was einem wichtig war. Aus dem bewunderten fernen Onkel, wurde der peinliche, starrsinnige Opa, der leider auch noch Teil der Familie war. Dieser Papst sprach immer die Menschen persönlich an. Er war nicht mehr fern, sondern ganz nah. Deshalb nahmen wir auch das, was er falsch machte, persönlich.

Die erste Enttäuschung war die Sache mit der Befreiungstheologie, die an meiner Franziskanerschule hoch im Kurs stand. Nicht alle Franziskaner können mit einer marxistischen Gesellschaftsanalyse etwas anfangen – aber aufgrund des Vorbilds ihres Ordensgründers Franz von Assisi sind ihnen die Armen wichtig, die Armen irgendwo im Süden, und hier treffen sie sich mit den Befreiungstheologen. Der Papst und sein deutscher Vollstrecker Joseph Ratzinger aber köpften die Befreiungstheologie, legten dem Befreiungstheologen Leonardo Boff ein Publikationsverbot auf („Bußschweigen“) – bis der schließlich entnervt Franziskanerkutte und Priestertalar an den Nagel hängte. Das nahm ich meinem Papst sehr übel.

Der Zorn wuchs, als ich Leonardo Boff mit anderen linken Katholiken einmal in Brasilien traf. Er sagte, gegen den Kapitalismus zu sein sei ein Gebot des Glaubens. Das war im Sommer 1988, kurz vor dem Fall des real existierenden Sozialismus. Bis heute weiß ich nicht, ob Boff Recht hatte. Ich weiß nur, dass mein Gott (sorry, hier wird’s pathetisch, aber das muss jetzt sein!) einer der Befreiung ist: ein Gott der Armen und Ausgebeuteten, Entrechteten und Geschundenen. Einer, der mitten im menschlichen Leid ist wie Jesus, ein Gott am Kreuz. Manchmal sah ich den Papst im Fernsehen auch auf diesen Pfaden: in Slums, mit Straßenkindern – aber zu selten, zu selten.

Der Papst umjubelt in Polen, wo er Solidarność auf die Beine hilft und damit indirekt am Ende der Teilung Europas mithilft. Johannes Paul II. in der Moschee, in der Synagoge, in Auschwitz, an der Klagemauer, als undiplomatischer zorniger alter Mann, der vor Diplomaten den Irakkrieg verdammt, in einem Tête-à-tête mit Fidel Castro im Vatikan, an einem winzigen Tisch allein ihm gegenübersitzend, vor allem aber die Begegnungen mit den Armen, die er berührte im umfassenden Sinne und die ihm zujubelten – all dies waren starke Momente, vor allem starke Bilder, die uns linken Katholiken Diskussionen mit anderen so schwer machten: Wie sollte man erklären, dass dies doch alles für den Papst spreche, auch wenn er zugleich die Pille zur Verhütung und Kondome gegen eine Aidsinfektion ablehnte. Was wog schwerer in unserem Urteil über ihn, und wie sind diese Aspekte miteinander vereinbar?

Das Schlimme war ja, dass diese Fragen durch die Person des Papstes nicht mehr nur akademische Fragen waren, sondern persönliche. Man schämte sich für ihn. Dieser Papst wurde einfach immer zudringlich, er ließ einen nicht in Ruhe, bei jeder Meldung mit der Überschrift Papst hatte man schon wieder Angst: Was hat er jetzt wieder angestellt?

Die Entfremdung wuchs, als Onkel Johannes Paul II. erklärte, ab jetzt und für immer sei es ausgeschlossen, dass Frauen das Priesteramt innehaben, weil ja auch Jesus mit seinen zwölf Aposteln nur Männer um sich gesammelt habe. Ein Theologieprofessor, ein Dominikaner, bei dem ich an der Uni ein Seminar belegte, kommentierte diesen schlichten theologischen Humbug so: Dann können also auch nur beschnitten jüdische Männer, am besten Fischer, Priester werden – oder was? Bei diesem Theologen erlebte ich auch, wie sehr dieser Papst und seine Glaubenskongregation in die Forschungsfreiheit der Theologen eingriff. Ich war froh, dann doch Geschichte im Hauptfach zu studieren.

Die deutschen Bischöfe, die in ihrer Mehrheit, – aus gutem Grunde! – für einen Verbleib in der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung waren, prügelte er geradezu hinaus. Ein Priester, der am Rande des Ökumenischen Kirchentages protestantischen Mitchristen die Eucharistie gab, ließ er nicht mehr Priester sein, obwohl dies jeden Sonntag in Deutschland dutzend-, wohl eher hundertfach passiert. Den evangelischen Kirchen sprach er, fast nebenbei, das Kirche-Sein ab. Und in den letzten Wochen seines Lebens veröffentlichte er noch ein Buch, das Abtreibungen in die Nähe des Holocaust rückte! Was soll man mit so einem Onkel anfangen? Eine meiner Mitschülerinnen übrigens, engagiert in der katholischen Jugend, hat abgetrieben, auch aus Angst vor ihrer papstselig-frommen Mutter.

Warum hat der Papst nicht einfach geschwiegen zu Fragen der Sexualität, für die er Regeln aufstellte, die kaum jemand mehr befolgt – auch nicht die hunderttausenden, die ihm immer bei Weltjugendtagen zujubelten? Und warum jubelten diese Leute so? Bin ich einfach schon zu alt, um diese Begeisterung teilen zu können?

Dann die letzte Phase seines Lebens, da er sein Leiden öffentlich zeigte, ja fast zelebrierte. Er müsse „sein Werk durch den Schmerz“ tun, sagte er – aber diese Schmerzensmystik verband er mit dem reaktionären Programm, dass er und die Kirche zwar krank und alt seien, aber das irgendwie dazugehöre. Dabei ist die Kirche doch demografisch gesehen jung, und was ist gut an Leiden und Krankheit, wie Settembrini im „Zauberberg“ fragt? Warum hat mich dieses Leiden des Papstes dennoch bewegt? Warum tat es mir weh, ihn um Worte ringend zu Ostern am Fenster zu sehen?

Der Papst war nach 27 Jahren in meinem Leben nicht mehr fern – so fremd mir die meisten seiner Ansichten und Entscheidungen blieben. Jetzt hat ihn die Liebe Gottes aufgenommen und er wird die Wahrheit sehen von Angesicht zu Angesicht, nicht mehr durch Spiegel, wie Paulus schreibt. Ich aber und neben mir noch viele andere linke Katholiken werden weiter rätseln über diesen Papst, auch darüber, wo er vielleicht doch Recht hatte. Mit ihm sind wir noch lange nicht fertig. Mit unserem Papst.