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Archiv-Artikel

Frei, gleich, arbeitslos

Arbeitstexte (IV): Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland beruht auf Gewissheiten, die seit der Französischen Revolution gelten – und die es dringend neu zu formulieren gilt

Die Demokratie hat viel mit Menschenrechten zu tun – aber noch mehr mit dem Konzept der Arbeit

Über fünf Millionen Arbeitslose – das schockiert. Nur warum? Erwerbslosigkeit ist keine Ausnahme, sondern normal. Ungewöhnlich ist hingegen die Vollbeschäftigung, die noch immer als offizielles Ziel verfolgt wird. Sie hat es in der Bundesrepublik nur für kurze Zeit gegeben: nach zwei Weltkriegen und einer Komplettzerstörung des Landes.

Doch obwohl die Vollbeschäftigung so selten ist, wird krampfhaft an ihr festgehalten. Das ist erklärungsbedürftig, wird jedoch nie erklärt. Stattdessen gibt es einen lebhaften Streit zwischen Neoliberalen und Spät-Keynesianern über die Methoden der Wirtschaftspolitik – die einen favorisieren Lohnkürzungen, die anderen wollen eher Konjunkturprogramme. Doch das Ziel ist identisch und heißt weiterhin: Vollbeschäftigung.

Gern verweist man aufs Ausland. Hat nicht fast jeder Brite einen Job? Oder die Niederländer! Und – ganz neu – die Australier! Dieses Spiel ist bei Neoliberalen wie Spät-Keynesianern beliebt. Nur ihre Beispiele unterscheiden sich. Wer mehr für den Staat ist, nennt die Skandinavier. Wer Dumpinglöhne will, entscheidet sich für die USA. Es geht zu wie beim Autoquartett: Wer hat den tollsten Stich?

Nun könnte man sich lange damit aufhalten, die Beispiele zu widerlegen, die die nahende Vollbeschäftigung plausibel machen sollen. Lassen sich etwa kleine Länder wie die Skandinaviens mit dem Weltmarktführer Deutschland vergleichen? Oder – wie stark profitieren die USA davon, dass der Dollar Leitwährung ist? Allerdings sind solche Diskussionen sinnlos. Im Unterschied zum Autoquartett ist die Zahl der Stiche nicht begrenzt. Auf jeden Einwand folgt ein Gegeneinwand, um den obersten Glaubenssatz deutscher Arbeitsmarktpolitik zu verteidigen: Vollbeschäftigung ist möglich.

Dabei zeigt ein Blick auf die Nachbardisziplinen, dass dort der Glaube an die Vollbeschäftigung schon lange verschwunden ist. So sollte sich die Rürup-Kommission eigentlich mit Renten und Krankenkassen befassen. Aber dafür mussten die Experten auch die deutsche Arbeitslosigkeit prognostizieren. Ergebnis: Sie werde 2020 noch immer bei 7 Prozent liegen. Allerdings dürfte selbst diese Annahme zu optimistisch sein, denn die Kommission unterstellte, dass die deutsche Wirtschaft jährlich um 1,7 Prozent wachsen wird. Tatsächlich legt sie momentan durchschnittlich nur um 1 Prozent pro Jahr zu. Die Arbeitslosigkeit wird uns also noch sehr lange begleiten, vielleicht für immer. Warum darf dies nicht ausgesprochen werden in der deutschen Politik?

Anscheinend lässt sich diese Tatsache nicht denken. Denn die Arbeitslosigkeit bedroht zwei zentrale Gewissheiten, an die die Deutschen seit 200 Jahren starr glauben. Diese Grundannahmen aufzugeben erscheint als so gefährlich, dass lieber gegen jede Evidenz an der Vollbeschäftigung festgehalten wird.

Die erste Gewissheit: Letztlich macht Arbeit den Menschen aus. Sie gibt ihm Sinn und Anerkennung. Es ist fast egal, was jemand tut, solange er nur arbeitet. Allein diese felsenfeste Überzeugung kann erklären, warum die 1-Euro-Jobs derart populär sind in der Politik. Arbeit ist eben prinzipiell eine Chance, auch wenn sie recht stupide ist, eigentlich nicht gebraucht wird und niemand einen regulären Preis dafür zahlen will.

Diese Absolutierung der Arbeit hat sich endgültig in der Französischen Revolution durchgesetzt. Denn Leistung war der Kampfbegriff der Bürger gegen den Adel, war der entscheidende Hebel gegen das Gottesgnadentum, mit dem König und Gefolge bis dahin begründet hatten, warum ihnen der Reichtum des Landes zusteht. Dagegen wurde nun der Begriff der Arbeit gesetzt. Wer die Steuern erwirtschaftete, der sollte auch politisch bestimmen dürfen. So gesehen erschien der Adel als eine Kaste, die nichts beiträgt, sondern nur faulenzt und Kosten verursacht. Die moderne Demokratie hat viel mit Menschenrechten zu tun – aber noch mehr mit dem Konzept der Arbeit. Denn dadurch wurde es überhaupt erst möglich, die Freiheitsrechte ideologisch durchzusetzen.

Der Leistungsbegriff hat die Demokratie jedoch nicht nur begründet – sondern auch lebbar gemacht. Denn eine Gemeinschaft politisch Gleicher kann nur funktionieren, wenn die ökonomischen Unterschiede nicht unerträglich groß sind. Deswegen ist Vollbeschäftigung so wichtig: Solange jeder einen Job hat, so die historische Erfahrung, lässt sich soziale Gerechtigkeit ziemlich reibungslos organisieren.

Zudem ist Arbeit als Gerechtigkeitskriterium bisher alternativlos. Denn jede andere Verteilungsdiskussion kollidiert sofort mit der zweiten ehernen Gewissheit: Solidarität ist in Ordnung, aber sie kann nicht grenzenlos sein. Verteilt wird nur der Überschuss. Wachstumsgewinne dürfen abgeschöpft werden, aber einmal erworbenes Eigentum ist heilig. Also Reform statt Revolution. Denn Aufstände zerschlagen, was eigentlich umverteilt werden soll. Auch diese Erfahrung entstammt der Französischen Revolution und wurde seither immer wieder erneuert – nicht zuletzt durch den gescheiterten Sozialismus.

Doch das Wachstum wird kleiner – und dürfte noch weiter sinken, wenn die Rohstoffe knapper werden. Bisher rettet sich die Gesellschaft, indem sie die Verteilungsmasse konstant hält, obwohl die Zahl der Arbeitslosen zunimmt. Der Einzelne bekommt eben weniger. Zuletzt war diese Strategie beim Arbeitslosengeld II zu besichtigen. Und auch die Sozialhilfe steigt schon seit Jahren nicht mehr, der Inflation zum Trotz.

Vollbeschäftigung ist historisch selten, trotzdem wird krampfhaft an ihr festgehalten

Doch jetzt ist die Untergrenze erreicht; bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern lässt sich nicht mehr sparen. Gleichzeitig werden sie immer weiter abgehängt – denn auch wenn die Wirtschaft bescheiden wächst, sie wächst. Doch dieses Plus wandert als Rendite vor allem an die Kapitalbesitzer, die zudem noch davon profitieren, dass Kapital die Arbeit immer stärker ersetzt. Diese zunehmende Ungleichheit – im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht nachzulesen – ist für eine einst eher egalitär strukturierte Gesellschaft schwer zu ertragen. Sie ist nur als notwendiges Opfer für ein hehres Fernziel zu akzeptieren: eben die Vollbeschäftigung.

Es ist schwer, den fixen Glauben an die Vollbeschäftigung aufzugeben. Denn dann müsste ja plötzlich auch jenseits der Wachstumsgewinne umverteilt werden – und das nach Kriterien, die mit Arbeit nichts mehr zu tun haben. Ein alternatives Konzept existiert durchaus: Man müsste akzeptieren, dass Menschen einen Wert an sich besitzen, selbst wenn sie nichts leisten. Dieser Gleichheitsgrundsatz entstammt ebenfalls der Französischen Revolution. Aber bisher konnte er nicht wirklich gelten, weil er mit den beiden Gewissheiten kollidiert, die damals parallel entstanden und die darin kulminierten, dass Arbeit für Gerechtigkeit sorgen soll. Es ist paradox: Zentrale Lehren der Französischen Revolution haben sich inzwischen überlebt. Aber darin liegt auch eine Chance, dass sie ihr eigentliches Versprechen endlich erfüllt.

ULRIKE HERRMANN