Der polnische Messias

Wojtyła prägte die katholische Kirche wie kein anderer Papst des 20. JahrhundertsSein harter Kurs festigte ironischerweise die Demokratisierung der Kirchen im Westen

VON BERNHARD PÖTTER

Er war ein Papst voller Sendungsbewusstsein. Er war der Papst der Provokationen. Noch seine letzte Krankheit und sein Sterben inszenierte er als öffentlichen Leidensweg. Und das Attentat vom 13. Mai 1981, dem er fast zum Opfer gefallen wäre, war für ihn die Erfüllung einer Prophezeiung: des so genannten „dritten Geheimnisses von Fatima“. Am 13. Mai 2000 nämlich hatte Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano in dem portugiesischen Marienwallfahrtsort im Auftrag von Johannes Paul II. verkündet: Die bis dahin geheim gehaltene Weissagung handele von einem „weiß gekleideten Bischof, der von Schüssen getroffen tot zu Boden fällt“. Damit hatte Sodano ein Grundmuster zum Verständnis des Pontifikats von Johannes Paul II. geliefert.

Denn diese Szene hat die Welt nicht vergessen: Johannes Paul II. in weißem Gewand, der am 13. Mai 1981 von den Schüssen des Attentäters Ali Agca getroffen in den Armen seiner Begleiter zusammensinkt. Die „Hauptperson dieser Vision“, so der Papst, sei er selbst im Kampf gegen „den atheistischen Kommunismus“. Die Verbindung des eigenen Lebens mit Prophezeiung und göttlicher Vorsehung war selbst für die Päpste, die sich als Stellvertreter Gottes begreifen, ein starkes Stück. Doch vor Provokationen schreckte Karol Wojtyła nie zurück. Er glaubte, der polnische Messias zu sein, der Kirche und Welt vor dem Untergang retten sollte. Eines kannte er nie: Zweifel an seinem Tun. Im Gegenteil war er voll des „polnischen Messianismus“, nach dem Polen der Kirche und der Welt die Erlösung bringen werde. Wojtyła war im Auftrag des Herrn unterwegs und wähnte sich immer im Recht. Die Kirche, so glaubte er, solle wissen und nicht diskutieren, Antworten geben und nicht Fragen stellen.

Damit unterschied er sich stark von seinen Vorgängern. Johannes XXIII., der Konzilspapst, wollte Bruder unter Brüdern sein. Paul VI. hatte Angst vor der Außenwelt und den Veränderungen durch das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965 und den Umbruch nach 1968 in Europa. Da kam der erste polnische Papst und erste Nicht-Italiener auf dem Petrusthron seit 456 Jahren mit seinem unglaublichen Selbst- und Gottvertrauen gerade recht. Theologisch und politisch prägte Wojtyła die katholische Kirche wie kein anderer Papst des 20. Jahrhunderts. Die Gemeinschaft von einer Milliarde Gläubigen machte der Global Prayer zur moralischen Supermacht: Weltpolitik betrieb er nicht mit dem Schwert, sondern diplomatischer Finesse, interner Skrupellosigkeit und seiner Rolle als telegenem Weltgewissen.

Für die in Kirche und Welt verunsicherten Konservativen war Wojtyła 1978 der richtige Mann zur richtigen Zeit. Volksnah, fromm, verbindlich, ein Intellektueller, der neben Polnisch und Italienisch Deutsch, Spanisch, Französisch und Englisch sprach. Ein moderner Konservativer. Der Papst, der es seinen Priestern etwa in Lateinamerika verbot, sich politisch zu engagieren, war selbst ein politischer Pontifex. Vor allem auf Polen konzentrierte er sein Augenmerk: Die alte Heimat galt ihm als Schlachtfeld, auf dem der Kommunismus, den er wie US-Präsident Reagan nicht nur als politischen Gegner, sondern als spirituell böse betrachtete, zu besiegen war. Mit CIA-Chef William Casey, einem streng gläubigen Katholiken, beriet er heimlich die Unterstützung für die polnische Gewerkschaft Solidarność. 40 Millionen Dollar habe der Papst in seinem Diplomatengepäck beim Polenbesuch 1980 eingeschmuggelt, die er über seine IOR-Bank der „Banco Ambrosiano“ entnahm, sagte deren Chef, Roberto Calvi, aus. Wenig später wurde Calvi in London erhängt unter einer Themsebrücke aufgefunden. Bis heute ist der Mord ebenso wenig aufgeklärt wie die Verstrickung von Kirchenmännern in die italienische Geheimloge P 2 oder die Verbindungen zur Mafia. Auch die Hintergründe des Papst-Attentates blieben im Dunkeln: War der Schütze Ali Agca ein Einzeltäter? War der bulgarische Geheimdienst auf Initiative des KGB der Drahtzieher? Waren es muslimische Fundamentalisten? Oder gar „höchste Kirchenkreise“, wie Agca sagte?

Die politische Wende in Europa 1989/90, der größte politische Erfolg des polnischen Papstes, erwies sich für ihn als schwere Enttäuschung. Er hatte gehofft, nach dem Ende des Sozialismus werde ein Christentum konservativer Prägung das Ruder übernehmen, doch der Siegeszug des Kapitalismus verbitterte ihn. Umso deutlicher begann er gegen „Materialismus“ und „Konsumismus“ der westlichen Welt zu predigen. In der Enzyklika „Centesimus Annus“ rüffelte er die Kapitalisten, die sich lang als seine Verbündeten begriffen hatten, für ihre Missachtung der Menschenwürde. 1999 kritisierte der Papst scharf die Marktwirtschaft nach US-Vorbild und übernahm Elemente der von ihm früher wütend attackierten „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika. Der Golfkrieg 1991, gegen den Wojtyła massiv protestierte, zeigte: In der „neuen Weltordnung“ von US-Präsident Bush spielte der Vatikan keine Rolle. Beim Irakkrieg hatte sich der Papst so weit von den USA entfernt, dass er mit allen theologischen und diplomatischen Mitteln gegen die Politik von George Bush dem Jüngerem kämpfte und der europäischen Antikriegskoalition seinen Segen gab.

Als „eiliger Vater“ wollte Wojtyła die Menschen direkt erreichen. Zu 104 Fernreisen kletterte er an Bord der vom italienischen Staat gestellten Alitalia-Maschine. Der Papst war auch Popstar, der als talentierter Schauspieler in oft von Starregisseuren arrangierten Gottesdiensten vor gigantischen Kulissen und Millionen von Gläubigen auftrat. Wojtyła war ein attraktiver, sportlicher, schlagfertiger und fernsehtauglicher Papst – Garant dafür, in der postmodernen Zeit die Massen zu erreichen. Ein Comicstrip über sein Leben, die CD „Abba Pater“ machten klar: Dieser Papst war seine eigene Boygroup.

Für seine Kirche beendete Johannes Paul II. offiziell das Mittelalter: Er rehabilitierte Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin, die das christliche Weltbild erschüttert hatten. Er räumte eine Mitschuld an der Kirchenspaltung nach der Reformation ein, besuchte 1986 als erster Papst eine Synagoge, 2001 zum ersten Mal eine Moschee. 1994 nahm er diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Mit dem großen Mea culpa im Heiligen Jahr 2000 für die Sünden der Katholiken bat Johannes Paul II. bei den Opfern von Judenverfolgung, Inquisition, Frauenverachtung, Hexenverfolgung und gewalttätiger Missionierung ernsthaft um Vergebung, um die Kirche geläutert ins dritte Jahrtausend zu führen. Direkt danach brach er zu einer historischen Reise ins Heilige Land auf, wo er den Holocaust beklagte und gleichzeitig die Forderungen der Palästinenser nach Selbstbestimmung unterstützte.

Doch das Ende des Mittelalters bedeutete für Johannes Paul II. nicht den Beginn der Aufklärung. Seit 300 Jahren sei die Geschichte des Westens „geprägt von einem Kampf gegen Gott und für die Abschaffung alles Christlichen“, war sich der Papst sicher.

Johannes Paul II. hinterlässt innerkirchlich ein theologisches und seelsorgerisches Trümmerfeld. Papst sein hieß für Wojtyła, Gehorsam einzufordern und nicht den Dialog zu suchen. Zusammen mit dem Leiter der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, machte er Kritiker wie den Schweizer Hans Küng oder den Deutschen Eugen Drewermann ebenso mundtot wie die lateinamerikanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez und Leonardo Boff. In den „jungen Kirchen“ in Afrika, Asien, Lateinamerika erstickte der rigide römische Zentralismus Ansätze zu eigenständiger Spiritualität. In der Frage von Abtreibung, Verhütung und Frauen als Priesterinnen versuchte Rom, den Konsens unter Bischöfen, Theologen und Gläubigen durch ein Bombardement von Lehrschreiben zu erzwingen. Wojtyła entmachtete die liberalen Orden der Jesuiten und der Franziskaner und setzte auf reaktionäre Geheimbünde wie das Opus Dei. Ironischerweise förderte er mit seinem harten Kurs die Demokratisierung der Kirche im Westen: Das Kirchenvolksbegehren, in dem seit Mitte der 90er-Jahre Millionen von deutschen, österreichischen und Schweizer Katholiken eine unverkrampfte Sexualmoral und mehr Rechte für Frauen forderten, hätte es ohne den Druck aus Rom ebenso wenig gegeben wie den Aufstand der deutschen Laien gegen den 1999 verordneten Ausstieg aus der Schwangerenberatung.

Der Mangel an Zweifel war Wojtyłas Stärke und Schwäche zugleich. Es wurde zu einer moralischen Instanz, hielt aber mit Starrsinn an eigenen Positionen fest. Bei der Ökumene etwa bewegte er sich auf die anderen Religionen zu – doch am Alleinvertretungsanspruch des wahren Glaubens hielt der rückwärts gewandte Modernisierer fest. Die Öffnung zur Welt, die das Zweite Vatikanische Konzil gefordert hatte, hatte der polnische Pontifex nicht verinnerlicht – er wollte die Welt lieber für seine Ansichten öffnen. Dass er dabei zunehmend den Kontakt zu einer Welt verlor, die dem absoluten Wahrheitsanspruch misstrauisch begegnet, nahm er in Kauf, ebenso den Verlust von Ansehen und Einfluss gerade in den Staaten, die politisch, wirtschaftlich und kulturell die globale Gemeinschaft prägen – die liberalen, kapitalistischen Gesellschaften in Europa und den USA.

Persönliches Ansehen erlangte der Papst in der letzten Lebensphase gerade auch in diesen Ländern und gerade auch bei jungen Menschen durch das Erdulden seiner schweren Krankheiten. Schwer gezeichnet von der parkinsonschen Schüttellähmung zelebrierte der gebrechliche Wojtyła unter Schmerzen und mit teilweise kaum verständlicher, zuletzt versagender Stimme seine offiziellen Messen und Empfänge vor den Kameras der Weltöffentlichkeit. Während die einen offen über einen möglichen Rücktritt des Papstes wegen Amtsunfähigkeit spekulierten, erfuhr Wojtyła besonders von Alten, Kranken und Behinderten Unterstützung für seinen eisernen Willen. Der für ihn mit dem Willen Gottes einherging: Wer von Gott auf diesen Posten berufen wurde, der füllt ihn aus bis zum bitteren Ende.

Auf Zustimmung von außerhalb der Kirchenmauern legte Karol Wojtyła nie viel Wert. Auch dafür gibt es vielleicht einen Grund in seiner Mystik. Nach der im Vatikan viel beachteten Weissagung des Pseudo-Malachias von 1595 ist Johannes Paul II. der vorletzte Papst vor dem Jüngstem Gericht. Ein solcher Mann will so kurz vor dem Ende der Welt keine Fehler machen.