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Archiv-Artikel

„Uno di noi, uno di noi!“

Auf dem Petersplatz trauern und feiern hunderttausend Gläubige – mit Gesängen und Applaus für den Verstorbenen

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Er war ein Papst, der die Massen liebte, das Bad in der Menge, den direkten Kontakt auch zu Millionen von Gläubigen bei den bisweilen als gigantische Events gestalteten Messen auf seinen vielen Reisen. Und er hätte wohl Gefallen gefunden daran, wie die Massen von ihm Abschied nahmen, erst in den zwei langen Tagen seiner Agonie, dann vom Samstagabend an nach dem Bekanntwerden der Todesnachricht.

Zehntausende hatten sich schon am Freitag auf dem Petersplatz eingefunden, um still zu beten, um den Rosenkranz zu beten, aber auch um mit Gitarre und Gesang dem Papst nahe zu sein, der im obersten Stock des vatikanischen Palasts, rechts über dem Platz, im Sterben lag. Natürlich waren zuerst die Römer da, bald aber auch trafen viele ein, Jugendliche vor allem, die aus Mailand, aus Neapel oder aus Turin angereist waren und bis spät in die Nacht ausharrten.

Es war Vatikansprecher Joaquín Navarro-Valls, der am Samstag dann der Presse mitteilte, Johannes Paul II. habe – wenn auch unter großen Mühen und in mehreren Anläufen – am Freitagabend gesagt: „Ich habe euch gesucht, ihr seid zu mir gekommen, und dafür danke ich euch.“ Navarro-Valls zeigte sich sicher, dass der Papst mit diesen Worten die tausenden Jugendlichen gemeint hatte, die auf den Petersplatz gekommen waren.

Ebenso sicher zeigten sich am Samstag die Papa Boys. Sie kamen mit selbst gemalten Transparenten: „Du hast uns gesucht – wir sind hier“, „Wir sind unter deinem Kreuz – wir werden dich nie verlassen“. Zehntausende drängten sich am Abend im Rund des Platzes, um erneut den Rosenkranz zu beten.

In dieser Weise hat Rom, hat die Welt noch nie von einem Papst Abschied genommen. Eigentlich sind die Stunden des Todes des Oberhaupts der Katholischen Kirche einem strengen Ritual unterworfen, beginnend bei der Feststellung des Ablebens: Der Camerlengo, der Kardinal-Kämmerer – der Spanier Eduardo Martinez Somalo – tritt ans Sterbebett, ruft zweimal den Namen – „Karol, Karol“ – dann spricht er die Worte „Vere Papa mortuus est“. Anschließend obliegt es dem Kardinalsdekan Joseph Ratzinger, das Kardinalskollegium, das Diplomatische Korps, die Staatschefs zu informieren. Dann hat der Vikar des Papstes für die Diözese Rom, Kardinal Camillo Ruini, die Aufgabe, die „Urbs“, die Stadt Rom, vom Tode des Papstes in Kenntnis zu setzen, während erst der „Campanone“, die große Glocke von Sankt Peter, und dann die Glocken aller Kirchen Roms das Todesgeläut anstimmen.

Gewiss, dieses Procedere wurde auch am Samstagabend eingehalten – faktisch aber wurde das vatikanische Ritual vollkommen gesprengt. Die Menschen auf dem Petersplatz erreichte die Todesnachricht per SMS, gerade als das Gebet des Rosenkranzes abgeschlossen war – und per SMS hatte kurz zuvor Joaquín Navarro-Valls die Nachrichtenagenturen informiert. Für Minuten fiel ein verstörtes Schweigen über die Piazza San Pietro, dann setzten wieder die Gesänge und Gebete ein.

Doch die im Laufe der Nacht auf etwa 100.000 Menschen anschwellende Menge sprengte erneut das Ritual. Immer wieder hoben sich Sprechchöre, „Giovanni Paolo, Giovanni Paolo“ begleitet vom rhythmischen Klatschen der Menge, riefen die Papa Boys: „Uno di noi, il papa è uno die noi!“ (Einer von uns – der Papst ist einer von uns), so wie sie am Vorabend gerufen hatten: „Langes Leben dem Papst!“ Und viele der Jüngeren waren mit Schlafsack und Decken angereist, um die ganze Nacht auf dem Petersplatz zu verbringen, bei Kerzenschein, in Grüppchen beisammensitzend und zur Gitarre singend, bis die Polizei um vier Uhr früh Ruhe gebot.

„Verwaist“ fühle sich nun das Kirchenvolk, hatte Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano zur Menge gesagt, und er hatte einen durchaus passenden Begriff gewählt. Viele der Anwesenden verschoben ganz leicht den Akzent: Den „Papa“ (Papst) hätten sie heute verloren, aber das sei so, als sei der „papà“ gestorben, der eigene Vater. Und es waren nicht bloß eifrige Messgänger, nicht bloß die jungen Aktivisten der Laienbewegungen „Comunione e liberazione“ oder „Focolarini“, die sich so äußerten. Auch erstaunlich viele Gesichter, die man eher auf einer Antiglobalisierungsdemo als bei der Totenwache für den Papst vermuten würde, waren in der Nacht zu sehen, Jungs mit dem Palästinensertuch, Mädchen mit dem Regenbogenschal der Friedensbewegung. Allein fühle sie sich, sagt eine junge Frau, Johannes Paul II. sei ein Mann des Friedens in kriegerischen Zeiten gewesen, „und er lässt uns jetzt mit Bush und Berlusconi allein“.

Das strenge vatikanische Ritual einerseits, der alle Rituale sprengende Massenabschied vom Papa-papà andererseits – auf diesen zwei Schienen wird sich das Geschehen in Rom bis zur Beisetzung Karol Wojtyłas bewegen. Auch gestern war der Petersplatz wieder bis auf den letzten Platz besetzt, als Kardinal Sodano die erste Trauermesse las, und auch gestern blieben die Gläubigen, feierten genauso wie in der Vornacht auf ihre Weise weiter, mit Gesängen und Applaus für den verschiedenen Papst, der derweil im Vatikan in der Klementinischen Kapelle aufgebahrt wurde, für das Defilee der kirchlichen Würdenträger genauso wie der italienischen Politiker aller Parteien, beginnend bei Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi und Regierungschef Silvio Berlusconi.

Heute geht es weiter, mit der Kongregation der Kardinäle, die den Beerdigungstermin festlegen wird, voraussichtlich auf Donnerstag oder Freitag, und mit der Überführung der Leiche Johannes Pauls in den Petersdom am Nachmittag. Drei Tage und Nächte werden die Menschen an ihm vorbeidefilieren. Und Rom bereitet sich auf einen Ansturm vor, wie ihn die Stadt noch nie erlebt hat. Stadien genauso wie Sport- und Veranstaltungshallen werden hergerichtet, werden mit Feldbetten vollgestellt, um die Pilgerscharen aufzunehmen, die in den nächsten Tagen in die Ewige Stadt strömen werden. Und schon jetzt steht fest, dass das Begräbnis dem Rekordpapst Johannes Paul II. den letzten seiner Rekorde eintragen wird, nicht bloß, weil erstmals mit George Bush ein US-Präsident zur Beerdigung eines Papstes anreisen wird: Rom rechnet mit zwei Millionen Menschen, die dabei sein wollen, wenn Karol Wojtyła zu Grabe getragen wird.