: Ein endloses Meer aus Zuckerguss-Pop
Um visualisierte Musik zu versenden, wurde das Musikfernsehen einst gegründet. Heute ist die Musik ins Abseits gerückt. Das Musikfernsehen hat seine Daseinsberechtigung verloren. Wann dürfen wir es endlich beerdigen?
Wo sich Werbung früher wenigstens noch als gut gestylter Videoclip tarnte, bläst sie sich heute auf wie ein glibbrig-grelles Bubblegum. Ob singtanzende Küken oder furzende Handys: Alles, was Multimedia-Depressionen fabriziert, lässt sich jetzt aufs Handy laden. Und wo werben die Klingelton-Terroristen am liebsten? Im so genannten Musikfernsehen natürlich: zwischen ADS-Kranken, die nackt in Mülltonnen springen, und Therapie-TV wie der Viva-Show „17“, wo traurige Teenager ihre Beziehungsstörungen verklappen dürfen.
Ja, wir wissen: Dass Musikkanäle von visualisierter Musik leben, ist längst passé. Sollten sie dann aber nicht ihren Namen ablegen? Schon einmal gab es einen Musiksender, der sich eher als Gemischtwaren-Kanal verstand und acht Jahre lang Musikvideos, Spielfilme und Soft Sex zu einer Übelkeit garantierenden Sendesuppe vermengte – bis Onyx im Jahr 2004 einen Hörsturz erlitt. Dieser droht nun auch den anderen Musikkanälen zu blühen, wenn das Konzept weiterhin ist, keines zu haben.
Wie fast überall gilt bei Viva und MTV erst recht: Gut ist, was Geld einbringt. Alles andere wird gestrichen. Nachdem MTV-Eigner Viacom den deutschen Kanal Viva abgefrühstückt hat, wird er nun ein bisschen verdauen und dann alles ausscheiden, was nicht ausreichend Dollars beschert. Vielfalt ist das Letzte, was man von den Amerikanern erwarten kann. Statt weiterhin Nischen zu füllen, zum Beispiel mit der unlängst eingestampften Sendung „Fast Forward“, einer Indie-Insel in einem Meer aus Zuckerguss-Pop, setzen die Macher auf zwielichtige, aber Quote bringende Formate. Senden Kuppelshows, Autoschraubershows, „Big Brother“-Wiederholungen und eben: Werbung.
In den 1980er Jahren ließen Jugendliche noch Partys sausen, um sich nachts vor der Glotze zu verbeugen, wenn der ehrwürdige WDR-Rockpalast seine Pforten öffnete. Der Videorecorder schnarrte, das Tonband konservierte – Musikfernsehen war eine weiche Droge, von der man nicht genug bekam. Heute hingegen bekommt jeder mehr als genug. Wer Musik hören oder die dazugehörigen Clips sehen will, muss nicht mehr auf die Auswahlkriterien von Musik-Redakteuren setzen, die von ihren Bossen zur Quote verdammt wurden – der Konsument ist sein eigener Programmdirektor, sein Medium ist das Internet. Hier findet sich alles und zu jeder Zeit. Ganz befreit von den oberflächlichen Kriterien der Branche ist freilich auch der Internet-User nicht: Im Web steht schließlich nur das, was irgendwann in der Hoffnung gedreht wurde, bei MTV oder Viva in die Rotation zu rutschen. Bei „Fast Forward“ lief auch Musik von unbekannteren Bands, die im Hauptprogramm nie eine Chance hätten. Damit ist es jetzt vorbei. Leider.
Sowieso: die Musik. Die Single eines Künstlers zu kaufen, galt mal als biblisches Bekenntnis zu einem einzigen Song. Besser als das Original verkaufen sich seit dem vergangenen Jahr aber die dazugehörigen Klingeltöne, im Fachsprech so genannte „Profilierungs-Tools“. Soll heißen: Statt mir die neue Maxi von Gentleman zu kaufen, lade ich mir lieber die blecherne Dudelei für mein Telefon runter, lasse mich tausend Mal anrufen und möglichst lange klingeln. Der Klingelton ist heute dasselbe wie ein Markenturnschuh: ein Distinktionsmerkmal.
Music-Television is over. Das wird schon lange gepredigt. Und doch ist Music-Television immer noch da. Ist grell und bunt. Nervt. Und ist eben kein Music-Television mehr. Wann, ja wann dürfen wir es endlich beerdigen?
BORIS R. ROSENKRANZ