: Karlsruher Privatbedürfnisse
Offiziell geht es nächste Woche beim Bundesverfassungsgericht um den europäischen Haftbefehl. Die Richter aber planen eine Generalabrechnung mit der EU-Integration
Nächste Woche wird in Karlsruhe die europäische Integration in Frage gestellt. Einfach so, weil den Verfassungsrichtern des Zweiten Senats danach ist. Und damit niemand überrascht ist, wurde schon mal eine Verhandlungsgliederung veröffentlicht. Darin ist die Rede von „Integrationsgrenzen“, von der „Identität des deutschen Verfassungsstaates“ und von „schrittweiser Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompetenzen“ auf die EU. Zwei Tage soll das Tribunal dauern. Eine so extensive Beratung gab es im Bundesverfassungsgericht schon seit mehreren Jahren nicht mehr.
Den Anlass für den Prozess gab der Deutsch-Syrer Mamoun Darkazanli, ein Islamist, der seit rund 20 Jahren in Hamburg lebt. Trotz zahlreicher Al-Qaida-Kontakte konnte ihm in Deutschland nichts Strafbares nachgewiesen werden. Doch der Madrider Untersuchungsrichter Baltasar Garzón will ihm in Spanien den Prozess machen – wegen Al-Qaida-Mitgliedschaft. Im November stoppte das Bundesverfassungsgericht die geplante Auslieferung erst kurz bevor das Flugzeug in Richtung Süden abhob. Nächste Woche wird über Darkazanlis Klage gegen die Auslieferung verhandelt.
Auf dem Prüfstand steht dann der 2004 eingeführte Europäische Haftbefehl, der Auslieferungen in andere EU-Staaten vereinfacht. Zum einen können dadurch erstmals auch deutsche Staatsbürger ins Ausland überstellt werden, zum anderen entfällt bei 32 Deliktsgruppen – von Mord bis Betrug – die Prüfung, ob die konkrete Tat in beiden Ländern strafbar ist.
Darkazanlis Anwälte rügen, ihr Mandant solle nach Spanien ausgeliefert werden, obwohl sein Verhalten in Deutschland gar nicht strafbar war. Im Ansatz haben sie Recht. Die Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorgruppe ist in Deutschland – anders als in Spanien – erst seit August 2002 verboten, und die Vorwürfe gegen Darkazanli beziehen sich auf die Zeit davor.
Dennoch gibt der Fall des Deutsch-Syrers für die große Abrechnung mit dem Europäischen Haftbefehl eigentlich nicht viel her. Denn Darkazanli hat wohl eng mit dem Führer der spanischen Al-Qaida-Zelle, Abu Dahdah, zusammengearbeitet und ihn auch mehrmals in Madrid und Granada besucht. Die scharfe spanische Rechtslage konnte er deshalb nicht einfach ignorieren, die Polizei hätte ihn ja schließlich auch in Madrid festnehmen können.
Außerdem hätte Darkazanli auch ohne Europäischen Haftbefehl an Spanien ausgeliefert werden können, weil bei Terrortaten bereits unter der alten Rechtslage schon seit Jahren nicht mehr die beidseitige Strafbarkeit geprüft wurde.
Geschützt hätte ihn früher nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch vor fünf Jahren wurde das Grundgesetz geändert, damit Deutsche auch in andere EU-Staaten ausgeliefert werden können. Karlsruhe prüft nun zwar allen Ernstes, ob die Verfassungsänderung selbst verfassungswidrig war. Doch wie abwegig das ist, zeigt ein Blick in andere europäische Staaten. Dort war die Auslieferung eigener Staatsbürger schon lange möglich, und dass diese Länder deshalb keine Rechtsstaaten sind, wird wohl niemand behaupten.
Natürlich bringt es Härten mit sich, wenn sich ein Deutscher zum Beispiel in Madrid vor Gericht verantworten muss. Er braucht Dolmetscher, das Prozessrecht ist ungewohnt, die U-Haft vielleicht unangenehmer als in Deutschland. Doch der Sinn der Auslieferung von Deutschen an ausländische Gerichte erschließt sich aus der Perspektive der anderen Prozessbeteiligten: Wenn zum Beispiel ein Deutscher angeklagt wird, er habe eine Frau in Spanien vergewaltigt, warum sollten dann das spanische Opfer und etwaige Zeugen ins fremde Deutschland kommen, nur damit der mutmaßliche Vergewaltiger keine Unannehmlichkeiten in Spanien hat?
Eigentlich müsste die Verfassungsbeschwerde gegen den Europäischen Haftbefehl schon nach kurzer Verhandlung ins Leere laufen, sollte man meinen. Doch am Gericht hat sich wohl ein ungewöhnliches Bündnis gebildet. Liberalen Richtern passt die aktuelle EU-Kriminalpolitik nicht, und den Konservativen in Karlsruhe geht sogar die ganze EU-Integration zu schnell und zu weit. Für beide Seiten ist der Fall Darkazanli also nur ein Vehikel, um ganz andere Fragen zur Sprache zu bringen.
So wird von links kritisiert, dass die Auslieferung erleichtert wird, bevor überall in Europa dieselben Taten strafbar sind und auch dieselben Verfahrensrechte gelten. Aber dieses ungleichzeitige Vorgehen ist eben Ausdruck des einst von EU-Skeptikern durchgesetzten Subsidiaritätsprinzips: Die EU soll sich bei der Angleichung des Rechts auf das Nötigste beschränken. Soweit es dabei aber zu Grundrechtsproblemen kommt, ist gar nicht das deutsche Verfassungsgericht zuständig, sondern der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.
Auch die Grundsatzfragen der EU-Integration, die die Konservativen aufwerfen, sind eigentlich fehl am Platz. Schon 1993 hat das Gericht in seinem Maastricht-Urteil geklärt, dass sich Deutschland an der Weiterentwicklung Europas beteiligen darf. Seither hat sich strukturell nicht viel verändert.
Den Richtern scheint es also weniger um die aktuelle Rechtslage, sondern eher um die noch nicht in Kraft getretene EU-Verfassung zu gehen. Das Ziel der Juristen ist zwar noch unklar – wollen sie in Deutschland ein Referendum über die Verfassung durchsetzen oder sogar ein „Bis hierher und nicht weiter“ verkünden? Mit dem Europäischen Haftbefehl haben solche Fragen nur noch ganz am Rande zu tun, die EU aber könnten sie in Turbulenzen stürzen.
Es wäre aber leider nicht das erste Mal, dass Karlsruhe ohne Not europäisches Porzellan zerschlägt. 1993 sprach das Gericht zum Beispiel dem EuGH in Kompetenzfragen einfach das Misstrauen aus und unterstellte das Luxemburger Gericht der eigenen – als „Kooperationsverhältnis“ verbrämten – Oberaufsicht. Und im vorigen Herbst erklärte Karlsruhe, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hierzulande nur berücksichtigt werden müssten, aber nicht verbindlich seien.
Hätten sich zum Beispiel die Verfassungsrichter der Türkei oder Rumäniens so selbstherrlich geäußert, würde man sagen, diese Staaten sind noch nicht reif für die EU. Aber in Karlsruhe scheint man wohl der Ansicht zu sein, der Rest Europas könne dankbar sein für die Nachhilfe aus Deutschland.
Neulich wurden die Verfassungsrichter kritisiert, nachdem einige von ihnen Interviews zu einem möglichen neuen NPD-Parteiverbotsverfahren gegeben hatten. Richter sollten Urteile schreiben und keine Interviews geben, hieß es damals. Vermutlich ist das Gegenteil richtig: Lieber sollten die Richter ihre Ansichten gelegentlich öffentlich äußern als die Rechtsprechung derart mit ihren wissenschaftlichen und politischen Privatbedürfnissen zu belasten wie im Verfahren zum Europäischen Haftbefehl. CHRISTIAN RATH