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Archiv-Artikel

Der Chemiker in späten Jahren

FILMPREMIERE IM JÜDISCHEN MUSEUM 21 Ehrendoktorhüte hat er schon, da beginnt Carl Djerassi Theaterstücke zu schreiben. Dem Erfinders der Antibabypille gilt Joachim Haupts Porträtfilm „Carl Djerassi – Mein Leben“

In seinen Romanen stellt Djerassi soziale und moralische Fragen an die Forschung

VON NADJA RÖLL

Sein Name, Carl Djerassi, ist nur wenigen bekannt, seine Jugenderfindung aber in aller Munde: die Antibabypille. Heute schreibt der renommierte Chemiker Bestseller und Theaterstücke. Der Film „Carl Djerassi – Mein Leben“ zeigt den selbsternannten „intellektuellen Polygamisten“ als Privatmann, als Getriebenen und Vertriebenen.

Was macht jemand, der die Pille erfunden hat, dem die Synthese des Cortisons gelang und der bahnbrechende theoretische Schriften über den „Magnetischen Zirkular-Dichroismus“ verfasst hat? Die meisten würden sich wohl in Ruhe zurücklegen. Nicht aber Carl Djerassi. Nach einer Krebsdiagnose beginnt für den über Sechzigjährigen in den 80er-Jahren ein zweites Leben. „Ich habe mich damals entschlossen, wenn ich das wirklich überleben würde, noch ein anderes intellektuelles Leben zu führen. Und dann habe ich mich entschlossen, in die Literatur zu gehen“, erzählt der heute 85-Jährige rückblickend vor der Kamera. Der mit 21 Ehrendoktorhüten ausgezeichnete Kopf bringt seitdem die abgehobene Welt der Wissenschaften auf die Theaterbühne und etabliert das neue Genre „science-in-theater“. Er zeigt in Bestsellern wie „Cantors Dilemma“ Menschliches und Allzumenschliches aus Forscherleben, erzählt von Liebe, Neid und übersteigertem Ehrgeiz.

Genau danach hat der Filmemacher Joachim Haupt auch in Djerassis Leben gesucht. Über ein Jahr lang hat Haupt den emeritierten Professor der Stanford University für die Dokumentation „Carl Djerassi – Mein Leben“ an verschiedene Orte begleitet. Wien, New York und San Francisco, das sind die wichtigen Stationen in Djerassis Leben und auch die Schauplätze der Dokumentation. Anhand der Orte zeichnet Haupt das Leben des ununterbrochen Weiterstrebenden zwischen Hörsälen und Theaterbühnen nach.

Seit der damals 28-Jährige mit der Synthetisierung des Hormons Progesteron die Pille erfand und damit einen Stein in das Rad des Lebens gelegt hat, ist er bis heute einer der gefragtesten Wissenschaftler zum Thema Empfängnis und künstliche Fortpflanzung. In seinen Romanen stellt Djerassi soziale und moralische Fragen an die Forschung, in seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er dagegen immun.

Der rastlos Reisende

Er will die Wissenschaft vorantreiben, weist jegliche Vorwürfe von Moralhütern wie der katholischen Kirche zurück und befürwortet Reagenzglasbefruchtungen. Seine größte Leistung sieht der Chemiker selbst aber nicht in der Erfindung der Pille oder des Cortisons, sondern auf theoretischem Gebiet. 1.200 Forschungsarbeiten hat er veröffentlicht, komplizierte Texte über Steroidchemie, optische Rotationsdispersion und Massenspektronomie. Themen, die schwer zu erklären und noch weniger in einem Film zu zeigen sind.

Der Regisseur Joachim Haupt konzentriert sich in seiner Filmbiografie „Carl Djerassi – Mein Leben“ auf den rastlos reisenden Djerassi: „Ich habe kein Heimatgefühl, das ist sowohl der Nachteil als auch der Vorteil. Ich habe schöne Wohnungen. Das brutale Ende meines Heimatlebens 1938 hat mich nie verlassen“, erzählt der amerikanisch-österreichische Jude in deutscher Sprache, mit einem leichten amerikanischen Akzent, und meint damit seine Flucht aus Wien über Bulgarien in die USA.

Ein Ort hat für ihn eine besondere persönliche Bedeutung. Fernab der Metropole hat Djerassi in der Nähe von Woodside in Kalifornien Land gekauft und es mit seinen beiden Kindern geteilt. Nach dem Selbstmord seiner damals 28-jährigen Tochter hat er seine millionenschwere Kunstsammlung verkauft und eine Künstlerkolonie gegründet. Über 1.700 bildende Künstler hat er hier bislang mit dem „Djerassi Resident Artists Programm“ gefördert, in Gedenken an seine Tochter und um dem Tod etwas Lebendiges entgegenzusetzen. Djerassi hat die Asche seiner Tochter und die seiner dritten Frau Diane W. Middlebrook, der Liebe seines Lebens, in einen kleinen Wasserfall gestreut. Hier kommt er heute noch hin, um über sein Leben und Werden und Vergehen nachzudenken. Hier zeigt auch der Filmemacher Joachim Haupt den ruhenden und fühlenden Menschen im Forscher: „Es ist ein magischer Ort. Zu sehen, dass Aschen im Wasser das erst total verfärben. Und dann innerhalb ein, zwei Minuten wird das total klar.“

Joachim Haupt zeigt in seiner Dokumentation „Carl Djerassi – Mein Leben“ einen „charmanten Selbstdarsteller“, vor allem aber „einen Menschen mit genialen Zügen“: den Wissenschaftler, Kunstsammler und Mäzen, Schriftsteller, Manager und Privatmann Djerassi. Ohne Kommentar des Filmemachers erzählt Djerassi in einer Collage aus Interviews selbst über sein Leben, in dem er so viel erreicht hat, aber selten zufrieden ist: „Es ist ein Druck. Der ist auch giftig. Es ist nicht nur ein Nährstoff, es ist auch ein Gift. Dieser Druck, das man immer noch was erreichen will, dass es nie genug ist.“

■ Filmpremiere: „Carl Djerassi – Mein Leben“. Heute um 19 Uhr, mit Vortrag von Joachim Haupt, im Jüdischen Museum