EINE SILVESTERPARTY IN PRENZLAUER BERG BRINGT RAKETENVERBOT, GESPRITZTE LIPPEN UND ERKENNTNISSE ÜBER DIE BOURGEOISIE : Man verdient sehr gut seit 1939
VON JURI STERNBURG
In Schwabylon geht es vergleichsweise ruhig zu. Während in der Sonnenallee schon gegen 18 Uhr paramilitärische Einheiten mit Druckwellen erzeugenden Böllern das jeweils gegenüberliegende Einzelhandelsgeschäft beschießen und man sich gar nicht mehr erschrecken kann, weil das Knallen zu einem einheitlichen Klangteppich mutiert, sind es an der Eberswalder Straße eher die Glitzerpyramiden, die für Heiterkeit sorgen.
Als Nun-wieder-Kreuzberger habe ich mich inzwischen ausgesöhnt mit meiner ehemaligen Heimat, dem Prenzlauer Berg. Aus der Ferne betrachtet ist eben alles etwas schöner. Wie hatte es mein Redakteur in seiner Antwort auf meine allererste für die taz geschriebene Kolumne so schön formuliert: „Sind wir nicht alle einmal zugezogen?“
Doch genug davon, hier soll es um gutes Essen, Spaß, Alkohol und Partys gehen. All das war an diesem Silvesterabend zur Genüge vorhanden, auch wenn ich immer noch bedauere, dass der Veranstalter der dritten Privatparty, auf der wir aufschlugen, uns verbot, Raketen aus dem Fenster zu schießen. Der Gastgeber der vorherigen Sause war da noch wesentlich generöser. Dass wir weder den einen noch den anderen kannten beziehungsweise nur über unsere schwarzlockige Mittelsfrau, der ich an dieser Stelle nochmals für ihre Stadtführerqualitäten danken möchte, hat zu unserer enthemmten Fröhlichkeit beigetragen. Der beste Platz ist bekanntlich immer auf dem Balkon (und nicht an der Theke, wie Rio Reiser einst behauptete), denn dort wird das Bier kaltgestellt. Es lässt sich auch leichter böllern, zumindest in einigen Teilen Berlins: In Lichtenberg oder Moabit würde ein solches Verhalten garantiert mit einem Knalltrauma und/oder Verbrennungen mindestens zweiten Grades bestraft werden.
Und schließlich ist es Mitternacht. Es wird angestoßen, gejohlt und gezündelt. In Momenten wie diesen ist keine Zeit, darüber nachzudenken, dass Freude auch nur der Schatten ist, den der Schmerz der anderen spendet, und das ist auch gut so. Neben mir steht ein älterer Herr mit Skibräune. Die aufgespritzten Lippen seiner Tochter ähneln zwei – zugegebenermaßen sehr ansehnlichen – Wiener Würstchen. Aber was soll’s, ich proste ihm zu. Er erklärt mir, wie schön es hier sei. Ich stimme ihm zu. Er klärt mich sodann über den Bezirk auf, in dem wir uns befinden, weil er der Meinung ist, dass wir zum ersten Mal den heiligen Boden des Prenzlauer Bergs betreten. Erzählt von den Vorzügen, den schönen Altbauwohnungen und den netten Leuten. Ich stimme ihm zu. Jetzt ist er vertrauensselig geworden und berichtet, dass er sich in dem halben Jahr, seit er hier wohnt, sehr gut eingelebt hat in seinen drei Wohnungen. Wohlgemerkt liegen alle im selben Bezirk.
Früher hätte es jetzt angefangen zu kribbeln, ein Gefühl der Wut, gepaart mit Angriffslust, wäre das Ergebnis gewesen. Eventuell sogar ein Vortrag über Gentrifizierung – aber nicht heute. Ich lächle nur und trinke hastig noch etwas Prosecco. Nun erzählt er von seinem Beruf, er berät nämlich Banken, das Finanzministerium und andere wichtige Menschen. Nun kribbelt es doch, aber es ist die Zeit der guten Vorsätze, und ich sage ohne einen Anflug von Sarkasmus, dass mich das für ihn freut, und zünde mir meine kubanische Silvesterzigarre an. Das scheint ihn nun vollkommen zu überzeugen, und er setzt zum großen Finale an: „Eigentlich müsste ich gar nicht mehr arbeiten, mein Urgroßvater hat ab 1939 so viel Geld verdient, das können auch die nächsten drei Generationen unserer Familie nicht mehr ausgeben!“
Verdammte Scheiße, ich hätte mich gleich aufregen sollen!