: Die Kofferkinder
Magische Parallelwelt: Hirokazu Kore-Edas Film „Nobody knows“ erzählt von vier Geschwistern, die von ihrer Mutter in einer Tokioter Einzimmerwohnung allein gelassen werden – eine Parabel auf kindliche Stärke in nach innen gekehrter Verzweiflung
VON CLAUDIA LENSSEN
Ein winziges Apartment in einer Tokioter Vorstadt; das Betonhaus und seine Umgebung sind menschenleer oder höchstens von Nachbarn bewohnt, die statt Kindern Hunde haben. Hier zieht die junge, kindlich wirkende Keiko mit dem 12-jährigen Akira ein. Eine Spur zu höflich erzählt sie dem Vermieterpaar von einem angeblichen Ehemann. Dann holen Mutter und Sohn zwei weitere Kinder aus den Koffern des Umzugsguts und schmuggeln die elfjährige Schwester ins Haus. Keiko kann nur ein Single-Apartment bezahlen. Darin schließt sie ihre Kinder ein, verweigert ihnen die Schule, hält sie anfangs mit Geschenken bei Laune. Später verschwindet sie.
Hirokazu Kore-Eda erzählt von Kindern, die verheimlicht und dann verlassen werden. Sein Film konzentriert sich vollkommen auf ihre Wahrnehmung, sodass die Bilder der Leere und der Gleichgültigkeit im bodenversiegelten Wohnhausgebirge eine deutliche soziale Kritik des 43-jährigen japanischen Filmemachers nahe legen. Aber wo in westlichen Filmen die Schuldfrage zur Dramaturgie gehört, entfaltet Hirokazu Kore-Edas östlicher Erfahrungshorizont auf subtile Weise eine andere Sicht. Aus dem Leiden entsteht die Chance zur Loslösung, aus dem Prozess minimalistischer Alltagsrituale entwickelt sich über zweieinhalb Stunden mit wachsender Intensität die Chronik eines Umgangs mit der Not, eine Parabel auf kindliche Stärke und Würde in der nach innen gekehrten Verzweiflung.
Akira (Yuya Yagira), Kyoko (Ayu Kitaura), Shigeru (Hiei Kimura) und die kleine Yuki (Momoko Shimzu), zwei Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen zwölf und vier, erscheinen wie verdrängt aus dem Bewusstsein der Mutter und der verschiedenen Väter – allesamt Exempel moderner Wohlstandsverwahrlosung. Wenn Akira zwei der Typen aufsucht, weil die Mutter aufgehört hat, Geld für die Haushaltskasse zu schicken, haben sie hilflose Worte, aber keine Lust zu helfen. Wie es ist, wenn Kinder sich gegen die Egotrips der Erwachsenen immunisieren und durch Zusammengehörigkeit widerstehen: Diese wertkonservative, an japanischer Spiritualität orientierte Vision treibt die suggestive Langsamkeit des Films an und zieht einen in den Sog der kindlichen Mikrowelt hinein.
„Nobody knows“ („Dare mo shiranai“), der vierte Spielfilm von Hirokazu Kore-Eda, greift sein Grundthema auf, die Frage nämlich, wie Trauer und Erinnerung die Identität prägen. „After Life“ (1998), sein bekanntester Film, ist in einem spirituellen Zwischenreich angesiedelt, in dem Verstorbene nach ihrer wichtigsten Erinnerung befragt werden, bevor sie mit einer verfilmten Fassung dieser Kernszene ihres Lebens ins Jenseits eingehen. „Nobody knows“ prägt sich beim Schauen kaum anders als magische Parallelwelt ein, indem der Film sich auf wenige Schauplätze konzentriert und die Bilder von Akiras einsamen Wegen zwischen Wohnung und Einkaufszentrum zu Zeichen der Veränderung auflädt. Starr wirken die realistischen Orte, sodass die Baumblüte im Park und die keimenden Bohnenpflanzen, die die Kinder sich endlich auf dem Balkon zu ziehen trauen, ihre Energiefarben im letzten Kapitel des Films ausbreiten.
Yuya Yagira als das älteste Kind Akira bleibt lange in Erinnerung (für die Rolle erhielt er einen Darstellerpreis in Cannes). Der Junge mit dem ernsten Blick und der heimlichen Lust zu spielen wird in die Pflichten des Ersatzvaters hineingezwungen, streift sie jedoch ohne mütterliche Kontrolle immer wieder ab. Mit dem Haushaltsgeld kauft er Spielzeug, um Kumpels für sich zu interessieren. Er treibt sich an der Schule herum, bis er eines Tages als Ersatzspieler ins Baseballteam aufgenommen wird – eine Auszeit von seinen Aufgaben, während der jedoch die jüngste Schwester Yuki im Nest/Gefängnis zu Tode kommt. Der Bruder bringt sie im selben Koffer fort, in dem sie in der Wohnung anlangte. Haneda, Tokios Flugplatz mit seinen Lichtern, war Yukis Traumort, wohin Akira einmal einen nächtlichen Ausflug mit der Kleinen unternahm. Dort begräbt er sie in einem stillen Ritual, begleitet von seiner ersten Freundin, einem vereinsamten Kind reicher Leute, das nun seinen Platz in der bizarren Kinderfamilie einnimmt.
Kore-Edas Inszenierung fußt auf einer geduldigen Langzeitbeobachtung, in deren Verlauf sich mit der zunehmenden äußeren Verwilderung der Kinder (jedes hat seine eigene Entwicklungsgeschichte) ihre gesamte Erscheinung verwandelt. Im langsamen Fließen des Jahreskreislaufs wachsen sie heran, wird Akira zum Jugendlichen, verlassen sie mit neu eroberter Sicherheit die Höhle. Sie holen sich, was sie brauchen, geschickt aus den übrig gelassenen Ressourcen der städtischen Wohlstandskulisse. Trotz seiner präzisen Anschaulichkeit ist „Nobody knows“ kein Dokudrama, eher ein magisches Märchen, das zu den Wurzeln der Identität zurückführt, indem es zeigt, wie Kinder sich von einem tief verborgenen Schock heilen und die Loslösung von der unzuverlässigen Mutter vollziehen.