Musik nur, wenn sie live ist

Die Sehnsucht nach dem authentischen Erlebnis treibt immer mehr Deutsche in Live-Konzerte – den horrenden Ticketpreisen zum Trotz

VON GUNNAR LEUE

„Crisis? What Crisis?“, diese alte Supertramp-Nummer ist schon seit einiger Zeit das Lieblingslied vieler Konzertveranstalter, jener etwas anderen Musikindustrie. Mögen die Deutschen auch anderswo ihre Taschen zuhalten, bei den Ausgaben fürs Ausgehen wird nicht geknappst. Das dürfte sich in diesem Jahr kaum ändern, schließlich brechen erneut gewaltige Massenanziehungskräfte über Deutschland herein. Mit U2, Coldplay oder Mark Knopfler starten einige Lieblingsliedersänger der gesellschaftlichen Mitte ihre Europatourneen.

Und selbst ganz alte Legenden kommen, teilweise in Originalbesetzung, aus der Versenkung zurück ins Bühnenlicht. Ozzy Osbourne hat sich mit den Jungs von Black Sabbath zusammengerauft. Und wo es nichts mehr zum Zusammenraufen gibt, wird man auf dem Transfermarkt für Rock-’n’-Roll-Ersatzspieler fündig. So bei Queen, wo ein gewisser Paul Rodgers fortan den Part von Freddy Mercury übernimmt.

Kein Wunder, dass der Präsident des Bundesverbandes der Veranstaltungswirtschaft (IDKV), Jens Michow, die Konzertveranstalter ungern in einem Atemzug mit der kriselnden Tonträgerwirtschaft genannt wissen will. „Die Veranstaltungsbranche, die allzu häufig hinter dem großen Deckmäntelchen der Not leidenden Musikwirtschaft verschwindet, ist eine Wachstumsbranche“, betont er nur allzu gern. „In Medienberichten über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Branche wird meist übersehen, dass die Veranstaltungswirtschaft mit einem Gesamtumsatz von 2,7 Milliarden Euro den wirtschaftlich umsatzstärksten Teil der Musikbranche repräsentiert.“

So verbuchte der Live-Entertainment- und Ticketkonzern CTS Eventim AG im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn, nicht zuletzt dank ausverkaufter Tourneen von den ewigen Konstanten Collins und Grönemeyer. Auch die Deutsche Entertainment AG in Berlin ist nach ihrer knapp abgewendeten Pleite vor einigen Jahren wieder in heftigem Aufwärtswind.

Dass Deutschlands Veranstalter ihr Umsatzergebnis in den letzten Jahren kontinuierlich verbessern konnten, liegt nicht zuletzt an den stetig gestiegenen Ticketpreisen. Die wiederum begründen sich in der Bereitschaft vieler Konzertveranstalter, vor allem den Topstars fast jeden Honorarwunsch zu erfüllen. Eine Springsteen- oder Madonna-Tour organisiert zu haben ist ja auch schön für die Firmenchronik – und fürs Veranstalter-Ego. Galten 100 Mark bis Ende der 90er-Jahre als letztgültige Schallgrenze, scheint es heute völlig normal, dass sogar das Ticket für eine verstaubte Genesis-Covershow mit dem verstaubten Namen The Musical Box über 50 Euro kostet. Für eines der raren Konzerte von Souldiva Diana Ross ist längst ein dreistelliger Betrag fällig.

Ein Blick in die Ebay-Ticketbörse verdeutlicht, wie sehr sich Musikkonsumenten längst für das vermeintlich einmaliges Konzerterlebnis schröpfen lassen. Eine Karte für ein U2-Konzert in der Arena AufSchalke für über 200 Euro – Bieter finden sich trotzdem zur Genüge. Es ist eben alles eine Frage von Angebot und Nachfrage.

In der Branche besteht wenig Zweifel, dass die gute Stimmung noch eine Weile anhalten wird. „Das Schöne ist ja, dass alle Genres gut laufen, von der Volksmusik über Schlager und Comedy bis HipHop und Pop“, sagt Burghard Zahlmann, der unter anderem das U2-Konzert in Berlin veranstaltet. „Die Leute wollen einfach Live-Unterhaltung. Wir verkaufen wesentlich besser als letztes Jahr – und da war es auch schon nicht so schlecht.“

Wonach die Leute indes vor allem verlangen, ist eine Selbstvergewisserung mit dem musizierenden Künstler, ja letztlich mit dem Medium Popmusik an sich. In Zeiten der virtuellen Sounddateien und nicht minder virtueller Retortensternchen inszeniert sich das Live-Ereignis als selbstbewusste Bühne der altgedienten Rockmythen. Hier geht es scheinbar noch ganz authentisch zur Sache. Mögen die Gesten auch geliehen sein. Und die Pointen längst einstudiert. Hauptsache, ein Bono redet AufSchalke nicht von der Allianz-Arena.

Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Branchenkenner ob des leidigen Themas Ausländersteuer (20 Prozent der Gesamteinkünfte der ausländischen Künstler müssen die Veranstalter ans Finanzamt abführen) von der Konzertwüste Deutschland sprachen. Superstars würden die empfindlichen Einbußen mit akutem Liebes- und Live-Entzug kommentieren. Und kleine, unabhängige Veranstalter könnten sich die kleinen, unabhängigen Bands aus der großen weiten Popmusikwelt bald gar nicht mehr leisten.

Heute schauen die Plattenfirmen neidisch auf die Bilanzen der Konzertveranstalter und versuchen, am Boom des Live-Geschäfts mitzuverdienen. So beinhaltet der 80-Millionen-Euro-Plattenvertrag, den EMI mit Robbie Williams abschloss, eine Beteiligung der Plattenfirma an dessen exorbitanten Live-Einnahmen.

Ein kleines Stück vom großen Live-Kuchen will auch der schrumpfende Unterhaltungskonzern Universal Music abbekommen. Weshalb das Majorlabel neuerdings Konzernmitschnitte, etwa von den Befindlichkeitspoppern Virginia Jetzt!, als kostenpflichtige Downloads anbietet – auch eine Reaktion auf eine jenseits des Antlantiks übliche Distributionspraxis.

In Amerika produzieren Bands (unter anderem The Pixies) auf bis zu 1.000 mobilen Brennern postwendend Live-Mitschnitte von ihren Konzerten. Für beide Seite eine lukrative Sache: Das Publikum bekommt das besondere Live-Erlebnis sofort auf Tonträger konserviert. Und für die Künstler erhöht sich die potenzielle Kundschaft erheblich, zumal seit der Weg in den Plattenladen für immer weniger Konsumenten zu den alltäglichen Routen gehört. Zwei Firmen – DiscLive und Clear Channel – fechten auf dem Markt für Live-CDs einen besonders hartnäckigen Konkurrenzkampf aus. Während Erstere einem Softwareunternehmen gehört, ist Letztere Teil der Clear-Channel-Gruppe, dem weltweit größten Konzertveranstalter. Diese CD-Produktionen gehen übrigens völlig an den Plattenfirmen vorbei, denn Clear Channel dealt direkt mit dem Künstler und dem lokalen Veranstalter.

Den deutschen Markt hat diese Geschäftsidee noch nicht erreicht, lediglich die Einstürzenden Neubauten haben nach einem Konzert einmal eine Kleinstauflage an Live-CDs verkauft.

Das neue Selbstbewusstsein der Entertainmentbranche zeigt sich auch in einem neuen Preis, der im nächsten Jahr erstmals vergeben wird. Mit dem LEA, Live Entertainment Award, sollen hervorragende Leistungen auf dem Veranstaltungssektor ausgezeichnet werden, unter anderem die beste Hallen- und Clubtournee und das beste Festival. Vorsitzender des Vergabekomitees ist ausgerechnet Deutschlands Veranstalterlegende Fritz Rau. Der ist seit nunmehr 50 Jahre im Geschäft – und besonders stolz darauf, in der Zeit nie insolvent gewesen zu sein. Oder wegen Steuerturbulenzen inhaftiert, das andere jähe Ende vieler Veranstalterkarrieren.

Dass es in der Tat nicht immer einfach ist, erfolgreich Konzerte zu veranstalten, musste erst kürzlich ein Branchenfremder erfahren. Tchibo wollte 2004 die drei Souldiven Whitney Houston, Natalie Cole und Dionne Warwick erstmals gemeinsam auf die Bühne bringen. Der Kaffeekonzern, der 2003 mit Luciano Pavarotti in die Konzertvermarktung eingestiegen war, rechnete mit jeweils 50.000 Besuchern pro Auftritt – was sich als klassische Fehlkalkulation erwies. Wer vom Kaffee Ahnung hat, muss eben nicht automatisch auch vom Konzertgeschäft die Bohne verstehen.