piwik no script img

Archiv-Artikel

Explosive Souveränität

Die Libanesen fühlen sich wieder an den Bürgerkrieg erinnert – nicht zu Unrecht

Ein Rückfall in den Bürgerkrieg muss unter allen Umständen verhindert werdenWelche Regierung auch immer an die Macht kommt, die sozialen Probleme wird sie nicht lösenEs gibt keine Programme zur Bewältigung der immensen Staatsverschuldung

Der Abzug syrischer Truppen und Geheimdienste aus dem Libanon gilt als sicher. Mit diesem Schritt hat die libanesische Opposition, die seit dem Attentat auf Hariri am 14. Februar gegen den syrischen Einfluss mobilisiert, einen ersten großen Sieg errungen. Doch die demokratische Herausforderung steht erst bevor: Um das Machtvakuum zu füllen und Souveränität in einer gewaltfreien Atmosphäre zu gestalten, muss ein nationaler Dialog um die Zukunft des Landes geführt werden.

Spätestens seit dem mächtigen Aufmarsch prosyrischer und überwiegend schiitischer Demonstranten erscheint die libanesische Bevölkerung in den politischen Entwicklungen nach dem Attentat auf Rafik Hariri mehr gespalten, als dies zunächst den Anschein gehabt hatte. Während das Oppositionsbündnis wochenlang Demonstrationen mit dem Aufschrei „Syria out!“ anführte, brachte die Hisbollah Anfang März eine ebenfalls eine beachtliche Zahl von Anhängern in die Innenstadt Beiruts, um den Syrern zu danken, der USA und Israel zu drohen und die UN-Resolution 1559, die eine Entwaffnung der Hisbollah vorsieht, zu schmähen.

Ohne einen offen Dialog aber droht dem Land neuerliche Gewalt. Noch ist das einigende Symbol der rot-weißen libanesischen Flagge allerorts sichtbar, und der friedliche Charakter sämtlicher Aufmärsche gab Grund zur Hoffnung. Doch mittlerweile provozieren eindeutig politisch motivierte Schießereien und die neueren massiven Bombenanschläge in den christlichen Vororten Beiruts.

Das weckt Erinnerungen an den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990. Die Situation lässt besonnene Vertreter des Oppositionsbündnisses und der Hisbollah den Dialog suchen. Sie müssen jetzt dringend glaubhaft machen, dass die Spaltung überwunden werden kann.

Im Beiruter Frühling von 2005 steht also viel auf dem Spiel. Ein Teil der Zivilgesellschaft auf den Straßen und Plätzen fordert „Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität“. Aber das reicht langfristig nicht.

Die Gruppen müssen sich eine nationale Zukunftsperspektive erarbeiten: Soll das bisherige politische System erhalten bleiben? Was passiert mit der Hisbollah? Mit welchen Programmen wird die lahmende Wirtschaft angekurbelt? Wie werden die großen sozialen Probleme angegangen?

Spätestens die Wahlen werden zeigen, ob die so betitelte „Zedernrevolution“ parteipolitisch den hergebrachten Konfessionalismus reproduziert. Denn die Forderung nach Souveränität bedeutet nicht unbedingt auch den zweiten Schritt der Schaffung eines Bürgerbewusstseins abseits der kommunitären und konfessionalistischen Strukturen.

Die Menschen haben nach wie vor Vertrauen in das Nachkriegssystem, das im Wesentlichen die Religionsgruppen versucht zu integrieren. Und eine Demokratie von USA Gnaden ist genauso wenig gewollt wie eine Isolierung oder gar militärische Intervention gegen Syrien.

Unter den jugendlichen Anhängern des Oppositionsbündnisses finden sich auch Mutige, die an dem System rütteln. Es gibt etwa Vorstellungen, ein Proporzsystem zu etablieren, und überkonfessionelle politische Gruppen tun sich auf.

Die Schiiten haben bewiesen: Ohne sie geht es nicht. Doch ihre stärkste Partei, die Hisbollah, steht vor einer schweren Entscheidung: Will sie weiterhin als bewaffnete „Verteidiger des Südens“ auftreten, den sie aus ihrer Sicht von den Israelis befreit haben. Oder wollen sie sich in das wie auch immer zu gestaltende künftige politische System des Libanon integrieren?

Sollte eine neue libanesische Regierung oder die USA die UN-Resolution 1559 vom letzten Herbst wirklich durchsetzen wollen, die eine Entwaffnung aller Milizen, freie Wahlen und den Abzug der Syrer fordert, würde es unweigerlich zur Konfrontation mit der Hisbollah kommen. Kompromisse deuten sich an, doch die Lösung lässt auf sich warten.

Auch das Oppositionsbündnis ist nicht von Mitstreitern umzingelt. Das Bündnis ist ein höchst heterogenes Gebilde, getragen von der kleinen überkonfessionellen „Demokratischen Linken“ über die „Progressive Sozialistische Partei“ des Drusenführers Walid Gumblat bis zu den christlichen „Forces Libanaises“.

Manche Intellektuelle im Libanon fühlen sich wenig angezogen von einem Bündnis, das auch die berüchtigte christlichen „Phalange“ und den „Forces Libanaises“ in ihre Reihen aufgenommen hat. Gleichwohl bietet den Intellektuellen die Hisbollah mit ihrer politischen Kultur der Militarisierung, der Verschwörungstheorien und der Feindbildrhetorik auch keine Anknüpfungspunkte.

Entscheidend für die demokratische Zukunft ist die verfassungsgemäß für Mai festgesetzte Parlamentswahl. Schon eine Verschiebung der Wahl um drei Monate würde die Opposition schwächen, weil sich die revolutionäre Stimmung im Land kaum über den Mai hinaus aufrechterhalten lässt. Und da sich das Oppositionsbündnis gute Chancen auf eine Mehrheit im Parlament ausrechnet, ist sie bemüht, den Wahltermin in jedem Fall zu halten. Dafür verzichtet sie sogar darauf, die neue Übergangsregierung zu bekämpfen. Nach dem Rücktritt der Regierung am 28. Februar ist Premier Omar Karameh erneut angetreten. Drei Wochen lang hat er versucht, die Opposition in eine Übergangsregierung zu integrieren – immer mit der Drohung, die Wahlen zu verschieben. Die Opposition verweigerte sich und hielt an ihren Forderungen nach dem Rücktritt führender Sicherheitschefs fest.

Dass sie nun auf eine Torpedierung der Übergangsregierung verzichten will, zeugt vom Willen zur Vernunft. Nur so kann der Wahltermin gehalten werden und die Regierbarkeit des Landes erhalten bleiben.

Doch es gibt von keiner Seite wirkliche Programme zur Bewältigung der immensen Staatsverschuldung, der Arbeitslosigkeit und der Abwanderung der Jugend. Welche Regierung auch immer an die Macht kommen wird, die sozialen Probleme stellen sich weiterhin. Die nächste Krise und neue Unruhen sind so unter Umständen programmiert. Ein Vorgeschmack darauf gab es im letzten Herbst, als Demonstranten in einem Vorort randalierten, weil die Benzinpreise stark gestiegen sind. Die Demokratie im Libanon ist eben noch ein zartes Pflänzchen.

In einem aber ist sich seit dem mörderischen Attentat auf Expremierminister Rafik Hariri die Mehrheit der Bevölkerung einig: Sie fordert unbeirrt nach Aufklärung. Die Verantwortlichen für den Tod Hariris müssen gefunden und vor Gericht gestellt werden. Derartiges Verlangen ist neu in der Nachkriegsgeschichte des Libanon. Die Menschen sind nach 1990 in eine kollektive Amnesie verfallen, die eine Aufarbeitung der Geschichte überdeckte. Nun aber gibt es den Willen zu einem „Rule of Law“.

KIRSTEN MAAS