: Die Zumutung vom Petersplatz
AUS ROM MICHAEL BRAUN
Sieht so Notstand aus? Eigentlich nicht. An diesem Mittwochnachmittag ist in Roms Hauptbahnhof Termini nicht mehr los als an einem gewöhnlichen Reisewochenende. Gewiss, tausende Menschen sind in der großen Halle am Ende der Gleise des Kopfbahnhofs, hasten nervös zum Zug oder sitzen müde auf Koffern und Rucksäcken. Doch niemand ruft verlorene Kinder aus, nirgends staut sich der Strom der Reisenden, vor keinem der Kioske bilden sich Schlangen.
Es wäre ein ganz normaler Tag auf dem Metropolenbahnhof, wären da nicht die Männer und Frauen, die durch ihre bunte Kluft gleich ins Auge stechen. Am Gleis 9 etwa steht eine Gruppe Eisenbahner rum, über ihre Uniformjacken haben sie sich Joppen in Leuchtorange gezogen, deren Aufschrift „Assistenza clienti – Customer Care“ verspricht. An ihnen ziehen Männer vom Zivilschutz in grün phosphoreszierenden Jacken vorbei, dann zwei junge Frauen mit den weißen Leibchen des Roten Kreuzes, Feuerwehrleute, blau uniformierte Polizisten, sogar ein paar Beamte des Forstschutzes sind nach Termini abkommandiert.
Aber statt um irgendwelche clienti kann die bunte Schar sich um sich selbst kümmern, schwätzend durch die Halle schlendern. Selbst als der Zug aus Ancona, der Stadt an der Adria, einläuft, eilen die hunderten Passagiere zielstrebig zum Ausgang, achtlos vorbei am willigen Hilfspersonal.
Eine Gruppe von etwa 20 Jungs und Mädchen ist leicht als Pilgerschar auszumachen: Alle tragen den Dress der katholischen Pfadfinder, kurze, dunkelblaue Hosen oder Röcke, hellblaue Blusen, Halstuch. Antonio ist sich sicher: „Jetzt geht der Stress los.“ Die Zugreise sei ganz normal gewesen, keiner musste stehen, „aber schon die Fahrt zum Vatikan wird eine Zumutung sein“. Davon hat er in den Nachrichten gehört.
Die Zumutung ist ein leerer Bus auf dem Bahnhofsvorplatz. Antonio kann es kaum glauben. Schon 30 Sekunden später fährt der Bus los, gerade einmal halb voll. Ein Römer lästert von hinten, so einen effizienten Nahverkehr wünsche er sich eigentlich jeden Tag: „Die Pilger sitzen, und wir müssen jahrein, jahraus stehen. Nicht mal zahlen müssen sie.“
Es geht die Via Nazionale hinunter, dann Piazza Venezia, schließlich in den Corso Vittorio Emanuele. „Total entspannt“ – Antonio schüttelt seine zum Zopf gebundenen langen Locken, verdutzt über den flüssigen Verkehr.
Der Bus hält, kurz vor dem Tiber. Und da ist er plötzlich, der Notstand: auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig der breiten Uferstraße, auf der Brücke, hinüber zum Vatikan. Ein endloser Strom von Menschen, dicht gepackt, bewegt sich im Zeitlupentempo vorwärts. Barsch fährt der Polizist an der Ampel die Pfadfinder an, sie sollten nicht einmal daran denken, sich auf die Brücke zu drängen. „Die Schlange fängt da hinten an!“ Hinten ist wo? 300 Meter, lügt der Polizist. Es ist locker ein Kilometer.
Der guten Laune Antonios kann das nichts anhaben. „Für mich ist das ein spirituelles Erlebnis. Uns war sofort klar, dass wir kommen. Elf Stunden stehen oder zwölf Stunden, das ist okay. Für diesen Papst würde ich noch viel mehr tun.“ Immer wieder sagt er auch „für meinen Papst“. Antonio ist 26, einen anderen Pontifex hat er nie erlebt, aber das ist nicht der Punkt. Er meint, Wojtyła sei „ein Geschenk für die Kirche“ gewesen, wie kein anderer vor ihm habe er vorgelebt, was Glauben heißt.
Antonio rechnet damit, dass es Nacht werden könnte, dass er womöglich den aufgebahrten Johannes Paul II. erst morgen sieht. „Da müssen wir durch. Es ist unser Opfer für ihn.“ Endlos dehnt sich die Zeit, bis die Gruppe überhaupt auf der Tiberbrücke ist, bis sie dann die nur wenig entfernte Via della Conciliazione erreicht. Gerüchte machen die Runde: Wer jetzt nicht bald eintrifft, hat angeblich keine Chance mehr; die Pilger vom Donnerstag werden gleich nach Tor Vergata gekarrt, ganz weit draußen im Osten der Stadt, auf das Freigelände des Universitätscampus.
Dort hat Antonio vor fünf Jahren den Papst erlebt, beim Weltjugendtreffen. Die Pilger des Jahres 2005 tun ihm Leid. Die kämen womöglich aus Polen angereist, um dann auf einer Wiese zu hocken, ohne Rom, ohne den Vatikan überhaupt zu sehen. Auch zur Beerdigung will keiner der Jungs und Mädchen aus Ancona mehr, seit sie gehört haben, dass die bloß zum virtuellen Großleinwanderlebnis für sie würde, zu verfolgen in Tor Vergata oder irgendeinem Stadion.
Die Gesichter in der Menge sind jetzt müde, manche blass, manche rötlich-erhitzt. Antonio, der Medizin studiert, ist sich sicher: bald gibt’s die ersten Schwächeanfälle. Einer aus der Gruppe witzelt, wenigstens können man in dem Gedränge nicht hinfallen. Alle 20 Meter stehen hinter den Absperrungen Sanitäter, die Trage schon bereit, während Zivilschutzleute ununterbrochen Wasserflaschen herüberreichen.
Der Chef der Zivilschutzeinheit sagt nur: „Unvorstellbar!“ Unvorstellbar sei das, diese Masse, die da nach Rom dränge, unvorstellbar aber auch, wie glatt alles laufe, wie geduldig die Menschen das Warten ertrügen. Die Beerdigung macht ihm trotzdem Sorgen. Millionen Polen, Millionen Italiener, das werde alles bisher Dagewesene übertreffen. Gott sei Dank habe Roms Bürgermeister Veltroni ab Freitag zwei Uhr nachts einen kompletten Verkehrsstopp verfügt, die Schließung aller Schulen, aller öffentlichen Einrichtungen angeordnet.
Trotzdem, sagt der Zivilschützer, mache er drei Kreuze, wenn alles ohne schwere Zwischenfälle über die Bühne gegangen sei. Schließlich kommen neben all den Gläubigen an die 200 Staatschefs. Viele seiner Leute arbeiten dieser Tage 20 Stunden ohne Pause, „und das sind Freiwillige, die machen das ohne Vergütung“. Wie der Hotelier aus den Abruzzen, knapp 50 Jahre alt, der die Absperrung öffnet, um ein zehnjähriges Mädchen in Empfang zu nehmen, das schon sehr blass um die Nase ist.
Blass ist auch die pummelige Frau, die auf dem Sockel eines der Obelisken an der Via della Conciliazione hockt. Nein, den Papst hat sie nicht gesehen. „Und wir werden ihn auch nicht sehen“, erklärt ihre Begleiterin, die kleine, schmale Rossella. Die 17-Jährige schimpft. „Uno schifo“ sei das, eine Zumutung. Sie seien rausgegangen aus der Schlange nach zwölf Stunden, in der Nacht zuvor sind sie noch mit dem Bus von ihrem Dorf in der süditalienischen Provinz nach Rom gereist, organisiert von der Pfarrgemeinde. „Nichts ist hier vernünftig organisiert, und keiner hat uns gesagt, was auf uns zukommt“, ereifert sie sich. Dann wird ihr Gesichtsausdruck wieder milde: „Trotzdem, dieser Papst ist es uns wert. Wenn wir ihn auch nicht sehen – unser Opfer haben wir gebracht für ihn.“ Dann machen die beiden sich auf zum Rote-Kreuz-Zelt, wo sich die Via della Conciliazione zum Petersplatz öffnet.
Dort tut Angelo Giuliani Dienst. Der Mittvierziger ist Kardiologe und mächtig stolz. „Wir haben das alles hier von heute auf morgen auf die Beine gestellt – und es läuft wie am Schnürchen. Hier im Zelt können wir sogar sofort die Herzenzyme analysieren, einen Defibrillator haben wir auch.“ Den hat er aber bisher noch nicht gebraucht. Seine Stammklientel sind Diabetiker, die nach stundenlangem Stehen wegen Über- oder Unterzuckerung umkippen, außerdem Leute mit hohem Blutdruck. „Und vor allem die Nonnen – die sind mit ihrer schwarzen Tracht viel zu dick eingepackt.“ Aber selbst nach dem Zusammenbruch wolle keiner auf die Visite beim aufgebahrten Papst verzichten. „Wenn wir denen versprechen, sie kriegen den Papst zu sehen, dann kommen sie gleich wieder auf die Beine. Das ist die beste Medizin“, grinst Giuliani. Beim Stichwort Beerdigung wird er sofort wieder ernst, erzählt, dass die Krankenhäuser bis nach Pisa und Pescara in Notfall-Bereitschaft stehen, dass eine Hercules-Maschine mit 22 Notfallbetten in der Luft sein wird, „zum Beispiel für schwer Brandverletzte“. Ein Attentat sei der einzige wirkliche Albtraum.
Anderen genügen schon weniger dramatische Umstände, um das Wort Albtraum in den Mund zu nehmen. Luca, der müde die Straße hinter den Kolonnaden des Petersplatzes runterkommt, direkt hinter dem Sanitätszelt, schüttelt mit dem Kopf. An seinen Rucksack hat er seine Isomatte gebunden, aber die hat er in all den Stunden seit seiner Ankunft letzte Nacht aus Florenz nie ausgerollt, „es war schier kein Platz in der wartenden Menge, um sich überhaupt hinzusetzen“.
Der Student verehrt Johannes Paul II., er ist in der Jugendarbeit aktiv. Trotzdem, Luca streicht sich über die Bartstoppeln, schiebt die Sonnenbrille hoch, „es hat sich nicht gelohnt“. Nicht einen einzigen Moment der Sammlung haben sie ihm gegönnt vor dem toten Karol Wojtyła, kein Gebet, nichts. Weiter, weiter, hätten die Männer am Altar die ganze Zeit kommandiert, und die vorbeiziehenden Leute knipsten wie wild mit ihren Foto-Handys und Kameras. Luca schüttelt erneut den Kopf: „Das ist, als wenn die Maradona gucken kämen, nicht den Papst.“