Das Echo der Vergangenheit

Viele Jahre kannte ich das wahre Leben meiner Eltern und die wahre Geschichte meiner Stadt nicht

VON STEFAN CHWIN

Ich bin in Danzig geboren, in einem alten Haus, aus dem die deutschen Bewohner im Januar 1945 vor der Roten Armee nach Hamburg oder Rostock geflohen waren. Aber auch meine Familie ist eine Familie von Vertriebenen. Im September 1944 vertrieben die Deutschen meine Mutter aus Warschau, wo sie als Krankenpflegerin an dem gescheiterten Aufstand teilgenommen hatte. Die Deutschen deportierten damals Hunderttausende aus Warschau, die Rote Armee störte sie bis zum Januar 1945 nicht dabei, sondern wartete friedlich am anderen Weichselufer, bis die aufständischen Polen vollständig „pazifiziert“ worden waren.

Während der gleichen Zeit wurde mein Vater von den Russen aus Wilna vertrieben, wo er sich als Pole mit höherer Bildung vor dem sowjetischen Geheimdienst NKWD verstecken musste, der Jagd auf polnische Intellektuelle machte. Er floh im letzten Augenblick vor der Verhaftung – wie er sagte – „nach Polen“, obwohl Wilna, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, doch eine polnische Stadt war. Im Verlauf einer Nacht machte die Rote Armee aus Wilna eine Provinzstadt im sowjetischen Russland, indem sie die alte polnische Grenze nach Westen verschob. Eine Rückkehr in die Wilnaer „Heimat“ war meinem Vater für 50 Jahre verschlossen.

Mein Vater floh aus Wilna „nach Polen“, aber er kam in eine Stadt, in der es nicht ein einziges polnisches Schild gab. Die Stadt hatte bis wenige Monate zuvor „Danzig“ geheißen. Hier, im verbrannten Hafengelände, wo sich ein kleiner Teil der ehemaligen deutschen Bevölkerung auf die Zwangsausreise nach Westen vorbereitete, traf mein Vater im Herbst 1945 meine Mutter. Sie war nach dem Krieg ebenfalls in Gdańsk gelandet. Als Krankenpflegerin fand sie Beschäftigung in der ehemaligen deutschen Medizinischen Akademie, wo sie eine Zeit lang mit einigen deutschen Ärzten zusammenarbeitete.

Meine Großmutter mütterlicherseits landete ebenfalls in Gdańsk. Im August 1944 wurde sie von Asiaten in deutschen Uniformen aus ihrer Warschauer Wohnung vertrieben. Deren Vorgesetzter war ein deutscher Offizier, übrigens sehr elegant, wie sie mir sagte. Ihr wurden zum Packen ihrer Sachen zwei Minuten zugestanden. Als sie auf der Straße zurückblickte, sah sie, wie einer der deutschen Soldaten ihre Gardinen im Salon anzündete. Das fünfstöckige Haus stand innerhalb einer Viertelstunde in Flammen.

Aus meiner Kindheit, die ich in Gdańsk verbrachte, erinnere ich mich vor allem an das Empfinden eines provisorischen Zustands. Dieses Gefühl teilten meine Eltern und fast alle unsere Nachbarn, unter ihnen viele von den Russen aus den Ostgebieten Vorkriegspolens vertriebene Polen. Seit meiner Kindheit wusste ich, dass im Leben nichts von Dauer ist und man sich an keinen Ort binden sollte. Wir lebten ewig auf Koffern. Wir waren davon überzeugt, dass die „Deutschen zurückkommen“, wenn die Russen es erlauben, und wir dann erneut fliehen müssen. Wir wussten, dass Verträge keinerlei Garantie bieten.

Aus der Kindheit erinnere ich auch das Schweigen unserer Väter. Dass meine Mutter während des Aufstands Krankenpflegerin war und aus Warschau vertrieben wurde, erfuhr ich erst 1989, also erst 40 Jahre nach den damaligen Ereignissen. Über diese Dinge durfte man in Polen nicht laut sprechen, ebenso wenig wie über die Vertreibung der Deutschen aus Danzig. Viele Jahre hindurch kannte ich das wahre Leben meiner Eltern und die wahre Geschichte meiner Stadt nicht. Die Deutschen – wenigstens im Westen – hatten es besser. Sie konnten nach dem Krieg Vertriebenenorganisationen gründen und Bücher über die Vertreibung veröffentlichen. Wäre mein Vater auf so eine Idee gekommen, wäre er sofort im Gefängnis gelandet.

Das war ein Tabu. Die Russen sorgten dafür, dass niemand aus den „Ländern des Friedenslagers“ auch nur einen Mucks von sich gab, weder zum Thema Deportation noch zur Grenzverschiebung. Wir lebten also mit einer offiziellen Lüge. Die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus dem Osten nannte man „Repatriierung“. In der Schule habe ich dieses Wort folgsam wiederholt, um das Abitur zu bestehen.

Wir lebten in der Angst vor den Deutschen, die die Russen pausenlos anfachten. Presse, Radio und Fernsehen redeten auf uns ein, die deutschen Vertriebenen würden uns mit Moskauer Erlaubnis Gdańsk wegnehmen, wenn wir nicht zu Russland hielten. Wir freuten uns darüber, dass Deutschland geteilt, also schwach war.

Im September 1939 hatten die Deutschen und die Russen Polen geteilt. Etwa eine Million Polen wurden tief in das Innere Russlands deportiert, nur ein Teil kehrte ins Vaterland zurück. Am Kriegsende wurden die ehemaligen polnischen Ostgebiete durch Stalin, Churchill und Roosevelt der Sowjetunion angegliedert. Über die Vertreibungen der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen konnte man überall sprechen. Die Regierung ermunterte dazu. Über die Vertreibungen aus dem Osten durfte man nirgends sprechen. Aber das Trauma der Vertreibungen aus dem Osten blieb als offene Wunde im polnischen Gedächtnis. Trotzdem entstand in Polen nach 1989 keine intellektuelle oder politische Bewegung von Vertriebenen, die eine Revision der Grenze mit den östlichen Nachbarn verlangt hätte. Wir waren der Meinung, dass sowohl sie als auch wir Opfer der Beschlüsse der Großen Drei waren. Auch mein Vater hat sich nie nach einer Revision der Grenzen gesehnt.

Viele Jahre hindurch gab es bei uns kein Mitgefühl für die deutschen Vertriebenen. Wir waren der Meinung, die Deutschen hätten die gerechte Strafe für ihre Taten während des Krieges bekommen. Das änderte sich erst in den 70er-Jahren, als Schriftsteller und Publizisten aus der antikommunistischen Opposition begannen, Arbeiten über die Deportationen in den Osten – außerhalb der Zensur – zu veröffentlichen. Nach einer gewissen Zeit schrieben sie auch über die Nachkriegsdeportationen der deutschen Bevölkerung. Erst damals fingen wir an, die Ähnlichkeit der Schicksale zu verstehen. Vertriebene leiden überall auf gleiche Weise. Auch die katholische Kirche hatte einen großen Einfluss auf die Veränderung des polnischen Denkens über die Vertreibungen der Deutschen. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass sich die Politik der Deutschen gegenüber den Ländern Mittelosteuropas änderte, was sich unter anderem in dem deutsch-polnischen Vertrag ausdrückte, den Willy Brandt 1970 unterzeichnete. Dann fiel die Berliner Mauer und zwischen Deutschen und Polen veränderte sich vieles. Wir sind Mitglied der EU und Bündnispartner in der Nato. Das Bewusstsein verändert sich jedoch nicht so schnell, wie wir es gern hätten. Auf jede deutsche Geste reagieren die Polen noch immer sehr lebhaft, manchmal auch übertrieben lebhaft. Fortwährend erinnert man sich daran, dass selbst Kanzler Kohl es am Vorabend der deutschen Vereinigung überhaupt nicht eilig hatte, die Oder-Neiße-Grenze eindeutig anzuerkennen, so als wollte er diese Frage offen lassen. Und daran, dass die Anerkennung der Grenze seitens der deutschen Regierung von den Amerikanern erzwungen wurde. In Polen ist man auch beunruhigt über das Verhalten der Vertriebenenverbände, obwohl diese sicherlich eine Randerscheinung im allgemeinen Bild der deutschen Gesellschaft darstellen.

Das Echo der Vergangenheit kehrt auch in einer anderen, ziemlich verblüffenden Art wieder. In den Köpfen der heutigen Bewohner von Gdańsk trennt eine unsichtbare Grenze immer noch das Gebiet der ehemaligen Freistadt von den polnischen Vorkriegsgebieten. Die Polen, die in einer Wohnung im Zentrum von Gdańsk leben, sagen zu denen, die „jenseits der Grenze“ wohnen, also in Gdynia: „Du hast es geschafft, dein Grundbuch ist ‚sauber‘.“ Diejenigen, die im Gebiet der ehemaligen Freistadt leben, haben keine „sauberen“ Grundbücher. Jeden Augenblick kann ihnen jemand aus Deutschland ein Papier schicken, dass das Haus, in dem sie leben, deutsche Erben hat. Und solche Schriftstücke schickt immer mal wieder jemand. Das hat Einfluss auf den Immobilienmarkt. Grundstücke „jenseits der Grenze“, in den polnischen Vorkriegsgebieten, erzielen einen höheren Preis als Grundstücke mit einem „schlechten“ Grundbuch im ehemaligen deutschen Gebiet. Meine Bekannten scherzen, es sei auf alle Fälle besser, „jenseits der Grenze“, nicht in den ehemaligen deutschen Gebieten, zu wohnen – obwohl wir doch nichts zu befürchten haben.

Es gibt heute in Polen keine mit der Epoche der Deportationen verbundene Angst vor den Deutschen, aber insgeheim ist man doch fortwährend besorgt. Und keine offiziellen Gesten ändern etwas daran. Was tun? Notwendig ist guter Wille auf beiden Seiten. Wir Polen sollten nicht nervös überreagieren, ja wir sollten nicht jeden beliebigen Vorfall auf deutscher Seite hochspielen. Aber auch die Deutschen könnten etwas leisten. Es wäre etwa sehr schön, wenn die Nachkommen der Vertriebenen aus Schlesien, Pommern oder dem Sudetenland zum deutschen Notar gingen, um dort eine eigenhändig unterschriebene Erklärung zu hinterlassen, dass sie auf alle Anstrengungen verzichten, ihr Eigentum im ehemaligen deutschen Osten zurückzubekommen. Und anschließend sollten sie diese Erklärung an polnische und tschechische Gerichte schicken. Soweit ich weiß, entschieden sich weder die deutsche Regierung noch deutsche Organisationen noch einzelne Deutsche (mit wenigen Ausnahmen) zu einem solchen Schritt, obwohl dadurch viele Zweifel zerstreut werden könnten.

Aus polnischer – vielleicht irriger – Perspektive sieht es so aus, als ob die Deutschen es trotz freundlicher Gesten vorziehen, die Tür zu den rechtlichen Fragen der Eigentumsverhältnisse einen Spalt weit offen zu lassen. Ich hätte es lieber, wenn diese Tür verschlossen wäre. Wenn jemand aus Deutschland in die ehemaligen deutschen Gebiete in Pommern, Masuren oder Schlesien, aus denen seine Eltern oder Großeltern vertrieben wurden, zurückkehren möchte, habe ich nichts dagegen. Soll er sich ein Grundstück neben meinem Haus kaufen, polnische Steuern bezahlen, ein Haus bauen und mich besuchen, um einen Kaffee zu trinken. Ich werde mir vielleicht auch ein Grundstück in Lindau kaufen, wenn ich nur erst viel Geld habe, denn ich liebe diesen schönen Ort am Bodensee. Eine solche Vision vom Europa der Vertriebenen mag ich.

Aus dem Polnischen von Ruth HenningDer vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus dem ab 13. April erhältlichen taz-Journal „DIE MACHT DER ERINNERUNG“