Mehr Abstand, bitte!

Die schwierige wirtschaftliche Lage der Qualitätszeitungen haben die heutigen Verleger für einen Machtkampf gegen ihre eigenen Redaktionen genutzt: Statt Inhalte zu produzieren, sollen Journalisten ihren Lesern ein dauerndes erlebnisjournalistisches Fest anrichten. Das wird sich rächen! Ein Manifest

VON ROBIN DETJE

Früher waren Journalisten Fachleute auf dem Spezialgebiet einer bestimmten Form der Weltvermittlung. Das Berufsbild hat sich geändert. Der moderne Redakteur verkauft ein buntes und vor allem gefühlvolles Gute-Laune-Paket und muss journalistische Erwägungen hintanstellen. Ein guter Chefredakteur oder Ressortleiter arbeitet heute vor allem für Marketingabteilungen seiner schwächelnden Verlage. Ein Autor ist ein Werbetexter in eigener Sache.

Die großen Themenstrecken, mit denen moderne Zeitungen heute protzen, die redaktionellen Sonderanstrengungen, für die alle Ressorts verpflichtet werden, ein Einheitsthema durchs ganze Blatt zu schleifen, haben weder etwas mit Journalismus zu tun noch mit den Erwartungen der Leser an eine verlässliche Zeitung. Das Konzept stammt aus dem Einzelhandel: Erlebniseinkauf! Dass man solch branchenfremde Strategien in Qualitätszeitungen auftauchen sieht, ist ein Zeichen für den gigantischen Mangel an Selbstbewusstsein, der in Redaktionen und Verlagen herrscht. Nur weil man sich mit seinem eigenen Produkt langweilt und an dessen Qualität zweifelt, fühlt man sich zu verkäuferischen Sonderanstrengungen verpflichtet und richtet seinen Lesern ein dauerndes erlebnisjournalistisches Fest an, das sie nie bestellt haben.

Die deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger – die ZZ-Verleger, wie wir sie hier nennen wollen – haben kein Interesse am Qualitätsjournalismus mehr. Sie geben diesen Markt still und leise, manchmal auch laut und entschlossen auf.

Die ZZ-Verleger der neuen Generation sind die Nachfolger der großen Verlegerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit. Sie können ungeheure Kunststücke vollbringen. Sie können neue Zielgruppen erfinden und im Schulterschluss mit den Media-Agenturen neue Produkte auf sie abfeuern. Oft treffen sie. Nichts ist erotischer als der Erfolg. Er lässt sich in Zahlen ausdrücken und nicht wegdiskutieren. Nur eins haben sie verlernt: ihren größten Schatz zu bewahren, ihr eigentliches Kapital. Sie haben Angst vor Kreativität. Alle Bereiche des ZZ-Verlagswesens, die mit echter, organischer und unberechenbarer Kreativität zu tun haben, werden weggeschnitten.

Die ZZ-Verleger haben Angst vor Inhalten. Sie können rechnen, aber nicht lesen. Deshalb produzieren sie für „Nichtleser“ – sie sind selbst welche. Ihre schwierige wirtschaftliche Lage haben sie für einen Machtkampf gegen ihre eigenen Redaktionen genutzt, und sie haben ihn gewonnen. Aus Autoren sind content provider geworden, als könnte man die wichtigste Tätigkeit im ZZ-Verlagswesen outsourcen. Die Honorare für freie Autoren wurden in den vergangenen Jahren gekürzt oder, wie phasenweise bei einer großen Berliner Tageszeitung, gestrichen. Für Anzeigen muss man keine Verantwortung übernehmen, und man verdient Geld an ihnen. Im modernen Verlagen ist die Notwendigkeit, Inhalte zu produzieren, keine Lust mehr, sondern eine lästige Pflicht.

Als Rechtehändler wollen sich die Verlage neue Verwertungsmöglichkeiten erschließen, und sei es mit vorgehaltener Waffe. Manchmal werden die Autoren aufgefordert, sich zur Aufgabe wesentlicher Rechte an ihren Texten zu verpflichten, manchmal werden sie trocken von der Gültigkeit dieser neuen Bedingungen in Kenntnis gesetzt. Die Verlage wollen alles, was sie einmal gekauft haben, uneingeschränkt weiterverkaufen dürfen, ohne um Erlaubnis fragen oder die Erlöse teilen zu müssen. Rein juristisch betrachtet können in einer deutschen Qualitätszeitung erschienene Texte von Mathias Greffrath nun in einem rechtsradikalen Sammelband weiterverwertet werden, ohne dass der Autor vorher davon erführe.

Die Übernahme der Copyright-Paranoia von Monsanto, Microsoft oder Sony Music ist weder unmoralisch noch verwerflich, sie ist bloß unternehmerisch falsch. Natürlich können die Verlage den offenen Machtkampf mit ihren Autoren kurzfristig gewinnen, ihrer Wirtschaftsmacht sei Dank. Langfristig werden sie verlieren, weil sie ihr Vertrauensverhältnis zu den Inhaltslieferanten mutwillig zerstören. Wer agiert wie Ignacio Lopez, dem liefert man keine erste Ware mehr. So wird man auf Dauer nicht nur die unabhängigen Autoren verlieren, die es noch gibt, man wird auch keine neuen mehr heranziehen.

Einmal, in uralten Zeiten, die vielleicht aus anderen Gründen keine besseren Zeiten waren, saßen die unberechenbaren und kreativen Redakteure des innovativen Printprodukts ZEIT-magazin auf dem Redaktionsflurteppich und kifften. Da kam ein mürrischer, kleiner Mann des Wegs, in einem Staubmantel, mit einem Honeckerhütchen, und stieg über sie hinweg. „Wer ist denn dieser Spießer?“, rief ein voll gedröhnter Redakteur. Es war Gerd Bucerius, dem der ganze Laden gehörte und der nun in seinem Büro verschwand.

Viele Legenden umranken den unberechenbaren und kreativen Verleger Bucerius. Wer weiß, welche der Geschichten stimmen. Hat er wirklich einen Stuhl nach seinem Chefredakteur Theo Sommer geworfen? Wir denken ihn uns jedenfalls als einen Mann, der in seinen Redaktionen das andere ausgehalten hat, und sei es im offenen Konflikt. Was nicht so war wie er, hat er ertragen, weil der Unternehmer Bucerius wusste, dass es ihm nützt. Dieses Selbstbewusstsein war das Markenzeichen der Verlegerpersönlichkeiten alten Stils, die man nicht idealisieren soll. Die Herren waren keine Herzchen; mit ihnen hatte man andere Sorgen. Aber der Vergleich mit ihren Nachfolgern lohnt sich.

Die ZZ-Verleger von heute sind so unsicher, dass sie sich nur mit Managern umgeben wollen wie sie selbst. „Persönlichkeit“ lässt sich nicht kalkulieren und wird wegrationalisiert. Die Streitsucht, die zum Journalismus gehört, wird abgeschafft. Kreative Journalisten können in der neuen Verlagsordnung nur deshalb in Reservaten überleben, weil es sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen würde, sie zu feuern. Aber einen großen Teil ihrer Energie müssen diese oft recht jungen Dinosaurier heute darauf verwenden, ihre journalistische Leidenschaft gegen die verlegerische Dummheit zu verteidigen. So hält man einander mancherorts noch einigermaßen in Schach. Die Jüngeren aber haben längst begriffen, dass es darum geht, im Apparat zu funktionieren und dem großen, rechnenden Tier nicht noch mehr Angst zu machen.

Die Grundidee des Zeitungswesens mag einmal der Dialog zwischen Lesern und Journalisten gewesen sein. Schon seit längerem stehen die Zeitungen auf dem wirtschaftlichen Fundament eines Dialogs zwischen Anzeigenkunden und Verlagen. Er wird immer weiter optimiert auf die Gefahr hin, das Eigentliche des Verlagsprodukts „Zeitung“ aufzugeben. Das Werbeumfeld wird sprachlich und von der Anmutung her der Werbung immer weiter angeglichen. Die Grenzen verschwimmen nicht zufällig, sie werden mutwillig aufgelöst. Der Einfluss der Media-Agenturen, die darüber entscheiden, wo die Großkunden ihre Anzeigen platzieren, nimmt zu. Ihr Einspruch kann neue journalistische Ideen und verlegerische Produkte zu Fall bringen und tut es auch. Der Machtkampf wird offen ausgefochten, ohne Respekt vor der inhaltlichen Integrität des Werbeumfelds Journalismus. Die Media-Agenturen verspüren keine gesellschaftliche Verantwortung für den Erhalt des Journalismus als Instrument demokratischer Kontrolle. Das wäre unlogisch.

Aber die deutschen ZZ-Verleger haben vor lauter Innovationslust vergessen, wer ihre Kunden sind. Das wird sich im Hochqualitätssektor bitter rächen. Die eigentlichen Kunden der Verlage sind die Leser. Erst über die Leser kommt man an die wirklich zahlenden Kunden heran – an die Media-Agenturen, die den Anzeigenkuchen verteilen. Die ZZ-Verlage verstehen die Leser nicht mehr. Ihre Unternehmenskultur gleicht der ihrer Anzeigenkunden. Konzerne verstehen die Interessen anderer Konzerne. Das Bild, das sich die Verlagskonzerne und Media-Agenturen von den Lesern geschaffen haben, ist ein aus ihrer eigenen Unternehmenskultur heraus erzeugtes Mode-Phantasma. Die Leser von Qualitätszeitungen lassen sich nicht so leicht in Zielgruppen einordnen. Man arbeitet zielstrebig an ihnen vorbei.

Aber man soll die ZZ-Verleger für ihre Schwächen nicht schelten. Ihr Rückzug aus dem unberechenbaren Hochqualitätssegment, ihr freiwilliger Kompetenzverzicht, ist eine unternehmerische Chance. Man muss sich nur trauen, seine Projekte nicht auf Zahlen und Ängste zu gründen, sondern auf Erfahrung und Instinkt, dann kann man auf dem Terrain, das die deutschen Weltkonzerne aufgeben, als local player gutes Geld verdienen. Dazu gehört der Wille zum unternehmerischen Risiko, eine in Deutschland auch jenseits des ZZ-Verlagswesens unbeliebte Qualität. Der deutsche Unternehmer verhält sich wie seine Angestellten: Er bewegt sich nicht und schimpft auf die Rahmenbedingungen. An seiner Mutlosigkeit sind andere schuld.

Wer es im deutschen Wachkoma wagt, überhaupt einen Finger zu rühren, kann nur gewinnen.