: Auffahrten ins Nirgendwo
Herrschaft durch Undeutlichkeit: In Israel/Palästina bekommen Besucher überall Landkarten in die Hand gedrückt. Trauen kann man ihnen allerdings nicht – es geht um Politik, nicht um Orientierung
VON MARK TERKESSIDIS
Wenn man in Israel/Palästina einen Besuch bei Organisationen macht, die etwas mit Menschenrechten zu tun haben, dann verlässt man das Büro stets mit einer Karte in der Hand. Peace Now in Jerusalem etwa verteilt detaillierte Karten, auf denen die neuesten „Outposts“ der israelischen Siedler im Westjordanland verzeichnet sind – dabei handelt es sich zumeist um einen Container oder eine Baracke, mit deren Hilfe eine neue Landnahme angezeigt wird. Bei der UN-Organisation für humanitäre Angelegenheiten (Ocha) in Gaza-Stadt erhält man eine „Closure Map“, eine Karte, auf der die Mobilitätsblockaden der israelischen Armee in Gaza verzeichnet sind.
Eine ähnliche Karte vom Westjordanland gibt es auch bei B’Tselem in Jerusalem – das ist eine Informationsstelle über die Menschenrechtssituation in den besetzten Gebieten. Dort hat man auch eine Karte über die Siedlungen gefertigt, an der Eyal Weizmann maßgeblich mitgewirkt hat; ein Architekt, der in Deutschland nicht zuletzt durch die Ausstellung „Territories“ in den Berliner Kunstwerken bekannt wurde. In der Wüste Negev wiederum hat der „Regionalrat für die palästinensischen Beduinen in den nicht anerkannten Dörfern“ eine Karte ebendieser Dörfer erstellt – dabei geht es um die autonomen Siedlungen der arabischen Bewohner der Wüste, denen der israelische Staat schlicht die Existenz verweigert. Und in Ramallah drückt einem der Mitarbeiter der „Geneva Initiative“ – einer Organisation, die Lobbyarbeit macht für die Ziele der alternativen Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern in Genf 2003 – ein ganzes Paket mit Karten in die Hand. Und auf dem Umschlag ist zu lesen: „Borders through Maps“.
Dass alternative Organisationen Devisen ausgeben wie „Grenzen durch Karten“, ist einigermaßen verwunderlich. Für die „Geneva Initiative“ geht es darum, endlich einen klaren Grenzverlauf abzusprechen zwischen Israel und einem zukünftigen unabhängigen Palästinenserstaat, und dafür werden selbstverständlich Karten gebraucht. Doch mit dem Motto ignorieren die NGOs viele Errungenschaften, die in den Achtzigerjahren in der so genannten kritischen Kartografie erkämpft wurden. Zu jener Zeit begannen John Brian Harley und andere, die Karte zu „dekonstruieren“. Die Objektivität der Karte, ihre angeblich mimetische Genauigkeit nannte Harley einen Mythos: Jede Karte habe zumeist „ethnozentrische“ Voraussetzungen und bilde bloß eine bestimmte Perspektive ab. Zudem stellte er fest, dass die Kartografie stets von der Macht beauftragt wurde und diese sich mit Hilfe der Kartografie auch Geltung verschafft hatte. Besonders offensichtlich war die Verquickung von Karte und Herrschaft im Rahmen von Nationalismus und Imperialismus, wobei wiederum die Festlegung von Grenzen eine ausgezeichnete Rolle spielte. Grenzen bestimmten, welche Personen zu welchem Staat gehörten und welche Staaten welche Einflusssphären regierten. Dass es heute eine nichtstaatliche Organisation ist, die sich des Mythos der Karte bedient, um ihre Ziele zu verwirklichen, das ist also durchaus erstaunlich. Tatsächlich führt die Kritik an der Kartografie im Laboratorium Israel/Palästina mittlerweile ins Leere. Denn dem besessenen Kartenzeichnen der NGOs steht eine zunehmende Weigerung der israelischen Regierung gegenüber, eine auch nur halbwegs genaue Karte ihres Territoriums zur Verfügung zu stellen. Nun war die Karte von Israel/Palästina von Anfang an permanent in Bewegung.
Ein unumstrittenes Territorium hat es seit dem Abzug der Briten nicht gegeben: Es gab den Anspruch der Juden auf ein biblisches Land, das sich unter den Dörfern der Palästinenser befinden sollte, es gab den Teilungsplan der Vereinten Nationen, es gab einen israelischen Staat und arabische Protektorate, es gab die Erinnerung der Palästinenser an die Dörfer, aus denen sie vertrieben wurden, und schließlich gab es die grüne Linie, welche den Staat Israel von den besetzen Gebieten trennte. Was die Karten anbetraf, so gehörte eine Mischung zwischen Genauigkeit und Undeutlichkeit, zwischen Bezeichnen und Verschwindenlassen schon immer zur Strategie der israelischen Landnahme. Während die jüdischen Siedlungen genau verzeichnet und allen anderen Orten akribisch hebräische Namen zugewiesen wurden, verlor sich die Spur der palästinensischen Präsenz unter den Punkten, Linien und Farben der israelischen Karten.
Ein aktuelles Beispiel für dieses Vorgehen sind die bereits erwähnten Beduinendörfer in der Negev, die von Israel nicht anerkannt werden. Von Beginn an hat sich die israelische Verwaltung bemüht, die Araber in der Negev zu „konzentrieren“ – in Orten wie Rahat. Doch nicht alle wollten ihre Dörfer verlassen. Nun erkennt Israel die Siedlungen dieser Verweigerer nicht an, was auch heißt: Sie sind nicht auf der Karte. Diese Abwesenheit hat für die Bewohner ernste Konsequenzen. Wer nicht verzeichnet ist, der erhält auch keinen Zugang zu allgemeinen Dienstleistungen: Wasser, Strom usw. Und wird zudem in der Planung nicht berücksichtigt, was etwa bedeutet, dass gleich neben der Siedlung eine durchaus umweltschädliche Fabrik genehmigt werden kann.
Auf den neuesten israelischen Karten ist nun die „Green Line“ abhanden gekommen – das besetzte Westjordanland ist also im israelischen Staatsgebiet vollständig aufgegangen und heißt nun „Judäa“ und „Samaria“. Diese Eingliederung war lange vorbereitet worden. Der Bau von Siedlungen und von Straßen war in den letzten Jahren ganz bewusst auf eine Integration des Westjordanlands ausgerichtet. Während diese israelische Infrastruktur mit Hilfe der Karte abgebildet wird, werden die Palästinenser in grauen oder braunen Flecken versteckt. Bekanntlich gibt es seit dem Abkommen von Oslo palästinensische Autonomiegebiete, wobei die volle Autorität der palästinensischen Behörden sich auf nur 17 Prozent des Territoriums erstreckt. Diese als „Area A“ bezeichneten Gebiete wurden von der israelischen Bebauung in den letzten Jahrzehnten konsequent isoliert und in willkürlich durchlässige Großgefängnisse verwandelt. Bestehende Verbindungsstraßen wurden durch Erdwälle oder andere Sperren gekappt, der „Sicherheitszaun“ erledigte den Rest. Auf der Karte verwandeln sich jene Landstriche in eine Terra incognita – eine Gegend, die man als „zivilisierter“ Mensch entweder überhaupt nicht oder nur unter Gefahr betritt.
Beim Carta-Verlag in Jerusalem kann man eine „Safety Map“ von „Judäa“ und „Samaria“ erwerben, in welcher alle ins israelische Straßennetz integrierten Straßen grün eingezeichnet sind – offen für den „regulären Verkehr“. Dieser „reguläre Verkehr“ beinhaltet die Palästinenser nicht: Sie müssen für die meisten dieser Straßen bei einer ganz bewusst kafkaesk gestalteten Bürokratie eine Genehmigung beantragen. Rot markiert sind dagegen sämtliche Straßen in den Autonomiegebieten: „No entry – danger ahead“. Allerdings sind ohnehin kaum Differenzierungen in den „Area A“ zu erkennen – es handelt sich um braune Flächen. Das Verschwinden der „Area A“ in der Fläche lässt sich in den Autonomiegebieten auch real nachvollziehen.
Wer hier nicht wie die Bewohner im Besitz eines lokalen Wissens über die Wege ist, der erreicht schnell einen Zustand der Orientierungslosigkeit: Es gibt nicht nur keine Karte, sondern auch fast keine Ortsschilder, Straßenschilder oder sonstige Hinweise. Als Besucher ist man auf die mental maps der Palästinenser völlig angewiesen – vor allem, wenn man „Area A“ wieder verlassen möchte. Manchmal sieht man den israelischen Highway nur wenige Meter entfernt, aber tatsächlich verläuft er in einer anderen Dimension. Wo eine Auffahrt ist, wissen nur die anwohnenden Palästinenser, die einem diese Auffahrt zeigen können, die aber keine Genehmigung haben, diese Auffahrt selbst zu benutzen.
Selbstverständlich existieren Karten der Autonomiegebiete, aber sie bleiben unveröffentlicht und ihre Genauigkeit dient nur den Eingriffen der israelischen Armee. Tatsächlich ist die Ungenauigkeit der „zivilen“ Karte bzw. das Verschwindenlassen oder die Verwandlung in eine Fläche mittlerweile ein Instrument der Herrschaft geworden. Die Kritik an der Karte, wie sie in den Achtzigerjahren von Kartografen formuliert wurde, ist zwar keineswegs falsch geworden, aber sie läuft ins Leere: Heute müssen die alternativen Organisationen für ihre Karten unbedingt den Mythos der Objektivität und Genauigkeit in Anspruch nehmen, der damals „dekonstruiert“ wurde.
Dass Karten in der Postmoderne eine neue Relevanz bekommen, das hatte Frederic Jameson früh erkannt. Er erklärte die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung und forderte „eine Ästhetik nach dem Muster einer für unsere Wahrnehmung und Erkenntnis orientierenden Kartografie – eine pädagogisch-politische Kultur, die das Subjekt mit einem neuen und erweiterten Sinn für seinen Standort im Weltsystem ausstattet“. Nicht nur die NGOs in Israel, sondern auch linke Aktivisten und kritische Künstler in Europa und den USA haben sich diese Gedanken zu Eigen gemacht: Das Spektrum reicht vom „Atlas der Globalisierung“, den Le Monde diplomatique herausgegeben hat, bis zum „Atlas der Landschaften und der Turbulenzen“, den etwa die Gruppe „multiplicity“ über das Mittelmeer als europäischem Grenzland erstellen möchte.
Mittlerweile ist das „Mapping“ so en vogue, dass sich die US-amerikanische Künstlerin Coco Fusco kürzlich über die unverhältnismäßige Beschäftigung mit dem Raum und die Vernachlässigung der zeitlichen Dimension beklagte. Tatsächlich können alternative Karten kaum mehr tun als einen Raum ästhetisch abbilden – als Bestandsaufnahme der Gegenwart oder als Fixierung einer neuen Ordnung. So ist die alternative Aneignung der Karte letztlich ein Rückzugsgefecht, das oft hinter die Erkenntnisse der kritischen Kartografie zurückfällt. Aber angesichts einer Herrschaft, die auf Ungenauigkeit baut, auf die Zerstörung von Berechenbarkeit, auf das Verschwindenlassen und auf die Orientierungslosigkeit der Subjekte, ist das „Mapping“ immerhin ein Weg, um ein kritisches Wissen zu verbreiten. Was mit diesem Wissen freilich zu tun wäre, dafür finden sich auf den Karten keine Hinweise.