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Archiv-Artikel

Massiv bedrohlich

RÜCKGRAT Theatrale Waffen zur Erkämpfung politischer Relevanz: fünf Performances über Hrant Dink im Ballhaus Naunynstraße

Als Ganzes betrachtet, ist diese Produktion von einer berührenden Tiefe und zeigt auf unverstellte, anregende Weise Rückgrat

VON KIRSTEN RIESSELMANN

In drei Tagen ist der türkischarmenische Journalist Hrant Dink seit fünf Jahren tot. In einer kurzen, heftigen Welle der Trauer und Solidarität gingen damals in Istanbul Hunderttausende auf die Straße. Dinks Mörder, der wirr nationalistische, zum Tatzeitpunkt erst 16-jährige Orgün Samast, wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt, zwei Hintermänner bekamen „lebenslänglich“. Dass alle Tatverantwortlichen angeklagt wurden, darf bezweifelt werden.

Seitdem wurde der von Rechtsaußen-Staatsanwälten immer wieder gegen Künstler und Intellektuelle in Anschlag gebrachte Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuchs modifiziert: Er stellt seit 2008 nicht mehr die „Herabsetzung des Türkentums“, sondern „nur mehr“ die „Herabsetzung der türkischen Nation“ unter Strafe. Außerdem muss jetzt der Justizminister seine Zustimmung zur Strafverfolgung nach Paragraf 301 geben – was er seitdem in immerhin 36 Fällen getan hat. 2005 war Hrant Dink noch der erste wegen dieses Paragrafen Verurteilte gewesen – für einen Zeitungsartikel, in dem er die Vertreibung der Armenier von 1915 offen Völkermord genannt hatte.

Das Ballhaus Naunynstraße – im vergangenen Jahr samt seiner künstlerischen Leiterin Shermin Langhoff raketengleich vom Underdog zu Everybody’s Darling aufgestiegen – startet ambitioniert ins neue Jahr und versucht sich in der Schärfung seiner theatralischen Waffen zur fortgesetzten Erkämpfung politischer Relevanz. In fünf Performances kümmert sich „§ 301 – Die beleidigte Nation“ um die Aufarbeitung des Falls Dink, um Analyse und Kritik – und um die Fortsetzung von Trauerarbeit und Gedenken. Was gelingt. Wenn auch manchmal ein wenig zu pathetisch, ist auch diese Ballhaus-Produktion als Ganzes betrachtet wieder von einer berührenden Tiefe und zeigt auf unverstellte und anregende Weise Rückgrat.

Auf einem Parcours durchwandert man von Performance zu Performance das ganze Haus. Züli Alada macht mit einem Re-Enactment einer Talkshow aus dem türkischen Fernsehen den Anfang. Hier wurde wenige Wochen vor Dinks Ermordung zum Thema Paragraf 301 diskutiert, Dink dabei von Nationalisten hart angegangen. Auch wenn die Darsteller recht hölzern agieren und die rahmenden Archivbilder einen etwas tränenseligen Aplomb haben – die äußerst bedrohlichen Sätze zu hören, mit denen der verzweifelt auf seinem Recht auf Meinungsäußerung beharrende Dink konfrontiert wurde, baut den Zuschauern eine Basis für den Abend.

Besser gespielt und konzeptuell klarer ist Bezars Idee, Dink und seinen Mörder in einen verspiegelten Kubus zusammenzupferchen, wo sie sich mit einem aus Originaltexten und Verhörprotokollen gesampelten Dialog beklemmend nahe oder eben gerade nicht nahekommen. Und wo am Ende als unvermitteltes Ergebnis aus Aufgeklärtheit und unbelehrbarer Dummheit ein Schuss fällt. Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger lässt ein politisch disparates Paar in verschiedenen Zimmern ebenjene Talkshow ansehen, durch die Wand kommentieren, sich beharken. Am Ende will es doch miteinander schlafen. Eventuell soll die Bigotterie politischer Positionen vorgeführt werden, die in der Schlafzimmerbequemlichkeit offenbar wird – aber Kroesinger begnügt sich mit wenigen Andeutungen. Bleibt die Brisanz der Originalfernsehbilder, die man faszinierter verfolgt als das spärliche Geschehen im theatralisch unausgenutzten Setting.

Gelungen sind wieder die beiden Inszenierungen, die einen etwas weiteren Bogen schlagen und allgemeiner auf das problematische Verhältnis zwischen Armeniern und Türken referieren. Silvina Der-Meguerditchian hat als Enkelin armenischer Überlebender ihre Begegnungen mit dem heutigen Istanbul filmisch reflektiert. Man liegt auf dem Rücken, während schlierenartig geschichtete Bilder oben über die Raumdecke ziehen. Löst die Rückenlage zuerst das Gefühl zwangsweiser Immobilisierung aus, so macht sie später das Verschlungenwerden durch Bild und Text möglich – und macht so die Ambivalenz der Frage spürbar, die diese Arbeit stellt: Was wiegt stärker, das Verlangen nach Anerkennung und Gerechtigkeit – oder der Wunsch nach Versöhnung, der sich im Schweigen über die schmerzhafte Vergangenheit eher zu erfüllen verspricht?

Hakan Sava Mican schließlich setzt das Publikum rund um einen verhüllten Kleinwagen, den er in eine Hörspielfiktion verstrickt. Ausgehend von Atatürks wie Erdoans nationalen Größenfantasien, wird eine armenischtürkische Ingenieurin imaginiert, die zwar das erste türkische Auto baut, aber das Navi auch mit den ehemals armenischen Namen heute türkischer Ortschaften bestückt und deswegen letztlich erschossen wird. So gewitzt und schön der erste Teil dieser Fantasie, so tieftraurig ihr Ende. Genau das aber ist das Tolle an diesem Abend im Ballhaus: Die Abscheulichkeit nationalistischer Verblendung wird auf neue Art denk- und auch fühlbar. Auch über den Schauplatz Türkei hinaus.

■ Weitere Vorstellungen: 16. bis 18. 1., jeweils 20 Uhr. Sowie 20. bis 22. 1., jeweils 19 Uhr und 21.30 Uhr