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Archiv-Artikel

Hummeln wollen auch leben

Das nennt man wohl Frühlingsgefühle: Gänse bauen ihre Nester und auch Menschen haben plötzlich Reize, die in den letzten kalten Tagen zuvor noch nicht da waren

Die erste richtig laue Nacht des Jahres. Tief atme ich sie ein, bis sich weh mein Herzchen spannt. Da hinten, da geht eine Frau über die Brücke. Noch vor zwei Tagen wäre sie mir gar nicht aufgefallen, doch was im Winter nichts bedeutete, schiebt sich auf einmal wieder mächtig in den Vordergrund: So eine indifferente Frühjahrsgeilheit, dieser Zustand des irgendwas Wollens und doch nicht genau Wissens, warum – gern sage ich „Hummeln im Sack“ dazu. Es gibt kaum Gegenmittel: Kalt duschen vielleicht, nicht zu viel saufen oder „Vera am Mittag“ gucken – doch wozu Gegenmittel? Die Hummeln wollen auch leben.

Die Frau auf der Brücke ist weg. Ist sie in einer Seitenstraße verschwunden, ist sie runtergefallen? Ich weiß es nicht, egal, kommt eh schon die nächste. Diesmal von der anderen Seite der Brücke. Ich gucke ganz genau hin. Ich soll das ja nicht, ich hab’ ja schon ’ne Frau, doch die ist nicht da. Ist die Maus aus dem Haus, tanzen die Kater auf dem Tisch. „Guck nicht so genau hin“, würde sie lachend sagen und mich eventuell gutmütig und nur ein bisschen eifersüchtig am Ohr ziehen, nicht ohne Selbstironie, denn sie kennt mich ja. „Leck mich am Arsch“, würde ich brummen, ebenfalls gutmütig und nur ein bisschen genervt, nicht ohne Selbstironie, denn ich kenne sie ja.

„Honk, honk“ macht es am dunklen Himmel – ich höre vielfachen Flügelschlag: Die Gänse kehren zurück und bauen sich am Wasser ihre kleinen Gänsehöhlen. An ihrer Stelle wäre ich ja weggeblieben. Es gibt hier keine Arbeit, in Deutschland gibt es nichts zu tun. Nur der Lenz dröselt unmotiviert vor sich hin: Ein Krokus schielt faul vom Mittelstreifen herüber. Jetzt gehen sogar zwei Frauen über die Brücke, aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu und in der Mitte so nah aneinander vorbei, dass sie sich um ein Haar berühren, ohne sich jedoch im geringsten zu beachten. Die haben vielleicht Nerven!

Bestimmt sind die Gänse inzwischen gelandet. Sie lassen ihre Hummeln aus dem Sack und nach neuneinhalb Wochen kommen kleine Gänsekinder aus den Höhlen gekrochen. Putzig sieht das aus, wie sie verschlafen in die dann schon warme Sonne blinzeln. Blumen überall und Bratwürstchenduft. Die kleinen Gänse sehen noch nichts. An den Ampeln müssen sie deshalb auf den Knopf mit den drei schwarzen Punkten drücken. „Piep“ macht das, wenn es grün wird, „piep, piep, piep“, und bald schneller, „pieppieppiep …“ – das klingt praktischerweise genau wie die Gänsemutter und bedeutet, dass es gleich Rot wird. Fein hat das die Natur eingerichtet, zusammen mit dem Straßenbauamt Wilmersdorf. Bei Rot haben kleine Gänsekinder nämlich nichts mehr auf der Straße zu suchen, sonst gibt es Gänseklein. Wenn die Ampel Rot zeigt, ertönt ein anderes Geräusch – „tack, tack, tack“ –, wie von einem Storch, der warnend mit dem Schnabel klappert.

Apropos Klapperstorch: Wieder kommt eine Frau über die Brücke, fast direkt auf mich zu. Das ist schon verrückt hier. Wie heißt eigentlich diese Brücke – Frauenbrücke? Leider würdigt mich auch diese Schöne keines Blickes, obwohl ich doch immerhin mitten auf der Brücke bin und nicht darunter – dann hätte ich die Nichtbeachtung ja verstanden. „Leck mich am Arsch“, murmle ich selbstironisch, denn ich kenne das ja: Hummeln im Sack. ULI HANNEMANN