: „Türken und Armenier sind psychisch krank“, sagt Hrant Dink
Über den Vorteil des Zusammenlebens, die unversöhnliche armenische Diaspora und die Debatte im Bundestag
taz: Können Sie in der Türkei offen über den Genozid an den Armeniern diskutieren?
Hrant Dink: Manche reden davon, sich bei den Armeniern zu entschuldigen. Es gibt aber auch den Widerstand alter Kräfte, die die Ereignisse weiter totschweigen wollen. Wie bei anderen Tabuthemen auch bewegt sich etwas in der türkischen Gesellschaft. Das ist nicht nur Folge äußeren Drucks, etwa durch die EU-Beitritts-Debatte. Seit Jahren entwickelt sich in der Türkei eine Demokratiebewegung. Wenn es sie nicht gäbe, hätte der äußere Druck nichts bewirken können.
Wie hat sich die Armenien-Debatte in der Türkei verändert?
Bisher verfolgte die Türkei eine Politik des Verleugnens. Jetzt ist die Politik an einen Punkt gelangt, wo sie sagt: „Wenn etwas passiert ist, dann war es gegenseitiges Töten.“ Der nächste Schritt wird wahrscheinlich sein, dass sie sagt: „Ja, wir haben den Armeniern mehr angetan.“ Es gibt also eine Entwicklung vom Verleugnen zur Anerkennung. Doch das ist kein leichter Prozess. Sie können nicht erwarten, dass verinnerlichtes Verleugnen auf einmal zur Anerkennung wird. Es gibt noch eine Station dazwischen.
Müsste man dazu die Dinge nicht erst einmal beim Namen nennen? Auch Sie vermeiden das Wort „Genozid“.
Das Wort „Genozid“ auszusprechen ist für mich nicht entscheidend. Die Geschichte braucht eine ethische Annäherung; juristische Begriffe, die international eine bestimmte Bedeutung haben, verhindern, dass wir lernen, was damals passiert ist. Diese Geschichte ist nicht nur die Geschichte der Ermordeten und der Mörder. Sie ist gleichzeitig auch die Geschichte derer, die sich menschlich verhalten haben. Wie wollen Sie das in das Wort „Genozid“ hineinzwingen?
Brauchen die Armenier in der Türkei in dieser Debatte die Unterstützung der armenischen Diaspora?
Wir Armenier in der Türkei haben unsere Geschichte nicht vergessen. Deshalb brauchen wir uns von niemandem vertreten zu lassen. Aber wir verhalten uns als verantwortliche Bürger dieses Landes. Die Armenier in der Türkei, jung oder alt, wollen, dass das Verhältnis zwischen den Türken und den Armeniern wieder verbessert wird. Da unterscheiden wir uns von der Diaspora.
Hat denn die kleine armenische Gemeinde in der Türkei ihre Kultur bewahren können?
Ja, aber unter schwierigen Bedingungen. In der Schule können wir unsere eigene Geschichte nicht lernen. Unsere Kinder lernen in der Schule nur, wie schlimm ihre Vorfahren waren, wie sie die Türkei verraten und Türken ermordet haben. Das bedroht unsere Identität – trotzdem konnten wir sie bewahren. Doch das ist etwas anderes, als eine Kultur weiterzuentwickeln.
Es gibt also keine Normalisierung zwischen Türken und Armeniern?
In der Türkei gibt es kein schlechtes Verhältnis. Wir haben das Glück, mit den Türken zu leben. Das ist der Grund dafür, dass wir uns von dem Trauma der Armenier überall sonst auf der Welt befreien konnten; sie können mit Türken nicht einmal reden. Türken und Armenier sind psychisch krank. Und es gibt nur eine einzige Therapie dafür: einen Dialog.
Welche Rolle kann der Westen im Versöhnungsprozess spielen?
Der Westen kann diesen Prozess unterstützen, indem er die Frage in die richtigen Hände legt – in die von Historikern, Intellektuellen, Schriftstellern.
In Deutschland hat die CDU einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der den Völkermord an den Armeniern verurteilt. Begrüßen Sie diese Unterstützung?
Es ist wichtiger, wenn ein einziger Türke die Geschichte versteht, als dass das deutsche Parlament Beschlüsse fasst. Für mich ist Frau Merkels Antrag zudem nicht glaubwürdig. Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte ich ihn vielleicht als eine Aktion für Menschenrechte oder Demokratie verstanden. Heute kann ich das nicht mehr. Denn die CDU-Vorsitzende bedient sich dieser Frage, um die Mitgliedschaft der Türkei in der EU zu verhindern. Das kann ich als Armenier nicht akzeptieren. Darunter leide ich heute am meisten: Die Katastrophe des Jahres 1915 wird zu einem politischen Triumph gemacht.
Können die Deutschen gar nichts tun?
Natürlich können sie was tun. Sie sollen als Erstes selber bei den Armeniern um Entschuldigung bitten. Denn Vertreibung – die haben die Türken auf dem Balkan von den Deutschen gelernt.
INTERVIEW: CEM SEY