: Zwanzig Jahre deutsche EinheitBahnhof des Grauens
Eine Spurensuche im Norden der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Heute: Der Grenzbahnhof SchwanheideGRENZERFAHRUNGEN (II) Der Bahnhof Schwanheide war ein Knotenpunkt im deutsch-deutschen Grenzverkehr. Der Reichsbahner Norbert Weise war hier Fahrdienstleiter – und kehrt erstmals seit der Wiedervereinigung zurück. Der Arzt Arthur A. Keller dagegen kommt aus Hamburg. Mit seinem Kunsthaus ist er größter Arbeitgeber im Dorf
Ausführliche Berichte über Schwanheide plus Fotos und Skizzen hat der Napoleon-Fan Norbert Weise auf seine Homepage www.napoleon-web.de gestellt
■ Das Kunsthaus liegt etwa einen Kilometer vom Bahnhof entfernt in der Zweedorfer Straße 127. Öffnungszeiten: Mo–Fr, 10–13 und 16–19 Uhr, Sa 10–14 Uhr, So nach Absprache ☎ 038842 / 2 25 06, www.kunsthaus-schwanheide.de
■ Kaufinteressenten für das Grenzgebäude erfahren Einzelheiten auf der Homepage des Maklers, www.scholzimmo.de
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Manches wird einfach nicht schöner. Beim Grenzkontrollgebäude in Schwanheide hilft selbst die Distanz von zwei Jahrzehnten nicht. Es bleibt grau und grauenhaft. Ein vierstöckiger Betonriegel, eingeschlagene Fensterscheiben, zugemauerte Eingänge, auf dem Vordach wächst eine Birke. „Die reißt das auch nicht raus“, sagt Norbert Weise.
In den 1980er Jahren war er Fahrdienstleiter auf dem DDR-Grenzbahnhof an der Bahntransitstrecke von Hamburg nach West-Berlin. Eine Arbeit „unter ständiger Kontrolle“ sei das gewesen, sagt Weise, der heute 56 ist. DDR-Reichsbahner wie er hätten ihren Dienst verrichtet, mit den Leuten vom Zoll „konnte man auch mal ein Wort wechseln“, zu den beiden anderen Staatsorganen aber „blieb man besser auf Distanz“: Die schwer bewaffneten Grenztruppen und die eigentliche Herrin über das Geschehen in Schwanheide, die Passkontrolleinheit. „Das waren Stasi-Fuzzis“, sagt Norbert Weise, „von denen hielt man sich besser fern.“
Der Bahnhof von Schwanheide liegt kaum drei Kilometer östlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern, Büchen in Schleswig-Holstein war das westdeutsche Pendant. „Tor zur Freiheit“ steht auf einem Granitblock auf dem Bahnhof Büchen, und wer Norbert Weises Erzählungen über Schwanheide zuhört, kann den Eindruck gewinnen, da sei was dran.
Der ehemalige Fahrdienstleiter erzählt von den hohen Zäunen, mit denen das Gelände abgesperrt war, von den Hundestaffeln, die hier zum Einsatz kamen, von den Postenbrücken quer über die Gleise, auf denen die Grenztruppen rund um die Uhr Wache schoben, von den Flutlichtstrahlern, die das gesamte Gelände nachts taghell erleuchteten. „Da konnte sich keine Maus unbeobachtet bewegen“, sagt Norbert Weise.
Und er erzählt von den Totweichen. Zur Grenzkontrolle mussten die Züge auf ein Nebengleis rangieren, an dessen Enden die Weichen so gestellt wurden, dass sie ins Schotterbett führten. Während die Fahrgäste im Grenzgebäude penibel gefilzt wurden, habe niemand unerlaubt mit dem Zug wegfahren können, sagt Norbert Weise. Für die Weiterfahrt durfte Weise die Weichen erst stellen, wenn die Kommandanten der Passeinheit und der Grenztruppen das anordneten.
Für Arthur A. Keller ist der Grenzbahnhof ein Relikt aus grauer Vorzeit. Eigentlich ist er Allgemeinmediziner, doch lieber ist er Maler. Das Kunsthaus Schwanheide betreibt der 51-Jährige zusammen mit seiner Frau Ulrike, die nach Hamburg pendelt, wo sie Kunstgeschichte unterrichtet. Vor acht Jahren haben die beiden das ehemalige Verwaltungsgebäude der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) günstig erworben, 660 Quadratmeter Nutzfläche und ein riesiger Garten.
Als er es zum ersten Mal sah, habe er sofort gewusst, „das ist es“, sagt Keller. Das Leben in der Großstadt hat er hinter sich gelassen, das kleine Atelier in Hamburg-Eimsbüttel, das er hobbymäßig betrieb, hat er aufgegeben und ist in das 800-Einwohner-Dorf übergesiedelt. Einen sechsstelligen Betrag haben die Kellers seitdem in die Modernisierung der Gebäude investiert, in eine neue Heizung, in neue Fenster, in die Photovoltaikanlage auf dem Dach.
Noch mehr Geld haben die beiden in Computer und Druckmaschinen gesteckt. Kalender, Kunstdrucke und aufwendig illustrierte Bücher in kleinen Auflagen entstehen in ihrem Kunsthaus, Auftraggeber sind Verlage. Elf Menschen arbeiten hier, in Teilzeit die meisten, „und nur einer mit Förderung der Arbeitsagentur“, sagt Keller stolz.
Das Kunsthaus ist der größte Arbeitgeber in Schwanheide, der Chef aber jobbt gelegentlich. Zwei oder drei Vertretungsdienste macht Keller jeden Monat in der Arztpraxis seines Bruders in Hamburg-Berne. „Da bleibt man beruflich auf der Höhe, und das Geld kann man ja auch gebrauchen“, wie er unumwunden zugibt.
Während Arthur A. Keller in Schwanheide wenn nicht von, so doch für seine Kunst leben kann, ist Norbert Weise nach der Wende weggezogen. Bei der Osthannoverschen Eisenbahn im niedersächsischen Celle hat der ehemalige Reichsbahner einen guten Job gefunden, privat wohnt er fast 100 Kilometer entfernt in Perleberg.
Es ist das erste Mal seit der Wende, dass Weise wieder seinen alten Bahnhof besucht. In Schwanheide halten nur noch alle zwei Stunden die Regionalzüge von Hamburg nach Schwerin, das Grenzkontrollgebäude ist überflüssig. Was aus ihm werden soll, weiß keiner. „Geplant ist nichts“, räumt der ehrenamtliche und parteilose Bürgermeister Gerd Altenburg ein. Schwanheide habe „kein Geld“.
Der Betonriegel steht zum Verkauf. Für 135.000 Euro preist das Maklerbüro Scholz aus der nahen Kleinstadt Boizenburg das „gut gelegene Objekt“ an der Bahnstrecke an. Auf 3.300 Quadratmeter Nutzfläche und 7.500 Quadratmeter Grundstück gebe es „viel Platz für Büro, Callcenter, Logistik, Lager, Verwaltung“.
„Wer will denn hier hin“, wundert sich Norbert Weise. Der Bahnhof Schwanheide ist für ihn DDR, von damals eben, nicht von heute. Aber als ein IC mit gefühlten 180 Stundenkilometern durchrauscht, muss er doch grinsen. „Das gab‘s früher nicht“, sagt er, „hier mussten alle anhalten.“
Nächsten Samstag Teil III: Kaiser Wilhelms Bahn und die Brücke über den Fehmarnbelt