Ernst und Euphorie

Farbschlachten und Soundcollagen: Im Rahmen des Festivals für zeitgenössischen brasilianischen Tanz „Moveberlim“ ließ es die Kompanie Cia. de Dança Balé de Rua im HAU 1 knistern. Das Publikum konnte kaum mehr still sitzen

Sie kamen aus der Peripherie, arbeiteten als Bäcker oder Autowäscher und wollten mehr als bloß überleben. 1992 gründeten sie, ein paar Jugendliche aus der Gegend um Uberlândia in Brasilien, eine Straßentanzkompanie – die Cia. de Dança Balé de Rua. Sie lernten nicht von professionellen Tänzern, sondern von der Straße, setzten ihre Erfahrungen in Bewegung um und schufen damit eine eigene Ästhetik, die über die Grenzen des Landes hinaus für Begeisterung sorgte.

Nach Auftritten in Frankreich und Italien gastierte die Gruppe mit „O Bagaço“ (Der Trester) nun erstmalig im HAU 1. Der Trester: das, was beim Keltern der Trauben zurückbleibt, der schale Rest. Die Realität: Schmeckt bitter und fühlt sich staubig an. Aber dann gibt es ja noch den Wein, der getrestert wird.

Die Cia. de Dança Balé de Rua findet zahlreiche Metaphern für die turbulente Geschichte ihres Landes und ihre individuellen Erfahrungen. Wie eine Verkörperung der Straße leuchtet im Dunkel der Bühne eine mit ro- ten Warnblinkern behängte Gestalt auf und verschwindet wieder, um kurz darauf an anderer Stelle aufzutauchen. Ein Phantom auch die androgynen Wesen in hautengen, neonfarbenen Anzügen, die sich wie Schlangen häuten, bis auch sie sich in der Dunkelheit aufzulösen scheinen. Ein paar spärliche Veränderungen in Haltung, Mimik und Musik genügen, um das Bild von schuftenden Arbeitern in das einer martialischen Tanzformation zu verwandeln.

Farben und Farbsymbolik spielen eine zentrale Rolle im Dialog untereinander und mit dem Publikum. Immer wieder werden die nahezu nackten Körper der Tänzer – von vierzehn Männern und einer Frau – rot, gelb und blau übertüncht. Von knallbunten Farbschlachten und neonphosphoreszierenden Geflechten, die den Körper auf der unbeleuchteten Bühne nur noch wie ein aus Blutgefäßen bestehendes Skelett wirken lassen, wechselt die Kolorierung immer wieder, wird schließlich weiß und schwarz. Große Eimer werden an Lippen gesetzt und Münder speien bunte Fontänen. Nach kurzer Zeit riecht es im Saal wie in einer Chemiefabrik. Bitterer Ernst und euphorisches Ungestüm gehen in der gut einstündigen Performance nahtlos ineinander über. Streetdance überlagert traditionelle Elemente, religiöse Gesten werden mit Pa- thos aufgeladen und parodistisch gebrochen. Unter sakrale Gesänge und Gedichte schie- ben sich die Spuren elektronischer Musik und der Rhythmus überträgt sich bald aufs Publikum, das kaum mehr still sitzen kann.

„O Bagaço“ ist ein enorm verdichtetes Sample. Die Stimmung ist ausgelassen und erinnert an ein HipHop-Konzert, auf dem ständig mitgerappt wird. Kein Wunder, dass es am Ende Standing Ovations gibt.

ASTRID HACKEL