: Die rot-grüne Relativitätstheorie
In der Visa-Affäre versuchen SPD und Grüne vor dem Auftritt von Joschka Fischer im Ausschuss deutlich zu machen: Missstände hat’s auch unter Kohl und Kinkel gegeben
BERLIN taz ■ Das Vorspiel läuft nach dem Geschmack von Rot-Grün. Kurz vor dem Auftritt des amtierenden Außenministers Joschka Fischer am 25. April im Visauntersuchungsausschuss richtet sich das Interesse der Medien zunehmend auf Reiseerleichterungen, die es auch unter Fischers Vorgänger Klaus Kinkel von der FDP gegeben hat.
Während sich die Union offenbar schwer tut, neues Belastungsmaterial gegen Fischer aufzutreiben, häufen sich – sehr zur Freude von Rot-Grün – Berichte, mit denen die neue Relativitätstheorie der Regierenden gestützt wird. Die lautet so: Wir haben Visafehler gemacht, aber die anderen früher eben auch.
Bei weltweit drei Millionen Visa pro Jahr gebe es nie eine Garantie dafür, dass nicht irgendwo ein Problem auftauche, hatte Fischer bereits am Mittwoch im taz-Interview erklärt und hinzugefügt: „Das war auch unter Kohl/Kinkel/Kanther so.“ Gestern nun meldete die Nachrichtenagentur AP, ihr lägen neue Dokumente vor. Diese belegten, dass schon unter Kinkel bei Visaprüfungen der Grundsatz gegolten habe: Reisefreiheit müsse Vorfahrt vor Bedenken haben. Dem Bericht zufolge warnte die Botschaft in Kiew bereits 1994 vor zu laschen Prüfungen von Visaanträgen. Der damalige Innenminister Manfred Kanther (CDU) habe Kinkel im selben Jahr brieflich darauf aufmerksam gemacht, dass sich „inzwischen viele international operierende Schlepperbanden darauf spezialisiert haben, durch Täuschung deutscher Auslandsvertretungen Visa zu erschleichen“.
Mehrere Zeitungen meldeten zudem, dass schon in den 90er-Jahren darauf verzichtet worden sei, vor der Visaerteilung die Zahlungsfähigkeit deutscher Gastgeber zu prüfen – so wie später unter Fischer. Kein Wunder, dass Rot-Grün vorhat, auch Kinkel und Kanther in den Visaausschuss vorzuladen. Aber zunächst sind noch die Verantwortlichen der rot-grünen Regierungszeit an der Reihe.
Bevor der Ausschuss gestern darüber verhandeln konnte, ob der Fischer-Auftritt am 25. April live im Fernsehen übertragen wird, standen einige Zeugenvernehmungen auf dem Programm. Und was der erste Zeuge Stephan Grabherr zu berichten hatte, gefiel den Vertretern der Union im Ausschuss gar nicht. Nach vier Stunden beschwerte sich der CDU-Abgeordnete Reinhard Grindel, es sei ärgerlich, dass der einstige Grundsatzreferent für Ausländerrecht im Auswärtigen Amt und heutige Kulturattaché in Madrid keine präzisen Antworten parat habe. Wie er sich denn auf seine Aussage vorbereitet habe, wollte Grindel wissen. Grabherr sagte, er habe im Auswärtigen Amt Akten eingesehen und dort auch ein paar andere Zeugen angetroffen. Aha, dies sei aber „problematisch“, stellte Grindel fest und warf sogleich das Wort „Zeugenkomplott“ in den Raum. Was wiederum SPD und Grüne erzürnte.
Vorabsprachen hin oder her: Der Verdruss bei der Union war nachvollziehbar. Ihr geht es ja um möglichst hohe Aufmerksamkeit für das Visathema. Doch wäre die gestrige Sitzung im Fernsehen übertragen worden – die Einschaltquoten hätten schnell im Promillebereich gelegen. In umständlichstem Bürokratendeutsch erläuterte Grabherr, welcher Unterabteilungsleiter wann welches Komma in welchen Visaerlass gesetzt habe. Aber es rutschte ihm kein Satz heraus, der Fischer belasten würde. Wann der Minister persönlich von Missbrauchswarnungen erfahren habe? Nun, das wisse er nicht, sagte Grabherr. Ganz präzise. LUKAS WALLRAFF
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