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Die Wahrheit sagen ist schwer

Jahrmarkt der Neurosen: Der amerikanische Schriftsteller Craig Clevenger erzählt in seinem Debüt „Der geniale Mister Fletcher“ von einem notorischen Schwindler und talentierten Fälscher

Daniel Fletcher wird nach einer Überdosis Schmerzmittel in ein Krankenhaus in L. A. eingeliefert. Ein Versehen, sagt er, als er wieder ansprechbar ist, doch der Dienst habende Arzt vermutet einen Selbstmordversuch. Er ordnet an, dass der Patient sich einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen muss und gegebenenfalls in eine geschlossene Abteilung überstellt wird. Reine Routinesache, vor allem für Daniel Fletcher selbst: Es ist nicht das erste Mal, dass er um sein Leben lügt.

„Der geniale Mister Fletcher“ heißt dieser Debütroman, in dem der amerikanische Schriftsteller Craig Clevenger die Karriere eines notorischen Schwindlers und talentierten Fälschers erzählt. Daniel Fletcher, der eigentlich John Dolan Vincent heißt, ist als Teenager zum ersten Mal wegen eines umdatierten Ausweises im Gefängnis gewesen, und er hat bereits ein paar unangenehme Erfahrungen in einer Nervenheilanstalt gesammelt. Seit er seinem ständig betrunkenen Vater und der heruntergekommenen Vorortsiedlung entkommen ist, hat er darum bereits mehrmals seine Identität gewechselt: „Ich besitze Stapel weißer Formulare in den Größen von Geburtsurkunden und Sozialversicherungsausweisen“, listet er das Inventar in seiner Fälscherwerkstatt auf: „Rollsiegel, Stempel, eine Maschine zum Laminieren, eine Kamera, mit der man Passfotos im Viererpack machen kann.“

Daniel Fletcher alias John Dolan Vincent sieht sich selbst als „Zielperson zahlloser Vorladungen und psychiatrischer Einweisungen“. In Wirklichkeit ist er jedoch einfach nur auf der Flucht vor sich selbst. Mit jedem neuen Namen, mit „jeder Fingerbewegung, jeglichem Räkeln, jedem Kratzen“, das er anderen Menschen abschaut und als eigene Angewohnheit annimmt, entfernt er sich mehr von dem „broken home“ seiner Kindheit und einem Menschen, der er nicht sein will. Obwohl der deutsche Titel des Romans an Patricia Highsmith’ „talentierten Mr. Ripley“ erinnert, handelt es sich bei dem „genialen Mister Fletcher“ allerdings nicht um einen charmanten Hochstapler, sondern um einen verzweifelten Rezeptfälscher und Tablettensüchtigen, der sich während seiner periodisch wiederkehrenden Migräneanfälle regelmäßig mit großzügig bemessenen Mengen von Methocarbamol oder Darvocet plus Bourbon beinahe umbringt.

Craig Clevenger ordnet sich mit seinem schnell und zynisch erzählten Debüt in eine Reihe von jüngeren amerikanischen Schriftstellern ein. Genauso schonungslos wie David Sedaris, David Foster Wallace oder Chuck Pahlaniuk beschreibt er eine Gesellschaft, in der die Abweichung von der Normalität längst zur Norm geworden ist. Es ist eine kaputte, kranke Welt: Wer sich wie Clevengers gehetzter Held auf diesem Jahrmarkt der Neurosen einfach nur in der Menge verlieren will, muss sich schon hinter einem lückenlosen Panzer aus Ticks und haarsträubenden Lügen verbergen.

Irgendwann ist allerdings auch damit Schluss. Als die ersten Risse in dieser Rüstung auftauchen, muss der vermeintliche „Daniel Fletcher“ sich entscheiden, ob er mit Haut und Haaren untergehen will oder, zum ersten Mal in seinem Leben, die Wahrheit sagen soll. Und die Entscheidung fällt ihm schwer. KOLJA MENSING

Craig Clevenger: „Der geniale Mister Fletcher“. Aus dem Amerikanischen von Susanne Mecklenburg. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 314 Seiten, 18,90 Euro

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