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Archiv-Artikel

Blick in fremde Schlafzimmer

Der subversive Roman für den Strandurlaub auf der anderen Seite des Mittelmeers. Ein erotisches Buch, geschrieben von einer Marokkanerin, schockiert durch seine Direktheit. Weiblicher Sex als letzter Tabubruch in der islamisch geprägten Gesellschaft

Das Buch stellt den Körper auf eine „skandalöse Art“ in den Mittelpunkt

VON EDITH KRESTA

Skandal, Schock, Tabubruch – so wird das Buch „Die Mandel“ gehandelt. Die Bild-Zeitung setzte es mit van Goghs Film „Submisson“ über die Unterdrückung des weiblichen Körpers in der islamischen Welt gleich, in Frankreich eroberte es nach seinem Erscheinen vor einem Jahr rasant die Bestsellerlisten. Das Buch einer Marokkanerin ist keine Anklage, kein Appell, sondern die schonungslose Preisgabe sexueller Entdeckung, Lust, Sinnlichkeit und Sprache des weiblichen Körpers. Mandel ist ein andere Bezeichnung für das weibliche Geschlecht. Das Buch ist ein erotischer Roman, die Geschichte einer sexuellen Besessenheit. Und die Geschichte einer weiblichen Ichwerdung in der muslimischen Clan-Gesellschaft.

Badra verlässt ihr Dorf, ihre unglückliche, arrangierte Ehe und begegnet in Tanger einem aufgeklärten Freigeist, dem sie sexuell, aber auch mit der „ganzen Unschuld der Seele“ verfällt. Er macht ihr ein schönes Geschenk: die erotische Liebe. Doch er ist in seinen Ausschweifungen, seinen sexuellen Gelüsten nicht zu bremsen. Badra erfährt ihre körperliche Abhängigkeit von ihm immer mehr als Demütigung. Sie verlässt Driss, ihren Liebhaber. Ihre immer neuen, seelenlosen sexuellen Begegnungen sind im Grunde die Austreibung dieser verlorenen Leidenschaft. Später kommt Driss, schwer krank, wieder auf sie zu. Doch ihr Körper hat den Mann verlassen.

Das Buch handelt von verpassten Zeitpunkten, verlorener Unschuld und der radikalen Selbsterfahrung einer Frau. Normalerweise hat man nicht das Recht in der arabischen Gesellschaft, „ich“ zu sagen, schon gar nicht als Frau. Badra tut es gnadenlos: „Ich erkläre hiermit, dass ich auf die Schafe wie auf die Fische pfeife, auf die Araber wie auf die Europäer, aufs Morgen- wie aufs Abendland, auf Karthago wie auf Rom …, auf Nagib Machfus wie auf Albert Camus … Ich, Badra, verkünde, mir nur einer Sache sicher zu sein: dass ich das schönste Geschlecht der Welt habe; es hat die schönste Form von allen; es ist prall, heiß, feucht, duftend und singt wie kein anderes; und es ist unübertrefflich in seinem Verlangen nach harpunengleich sich reckenden Schwänzen.“

Das Buch bedient den Voyeurismus, zeigt aber genauso Empfindsamkeit, Zärtlichkeit und Trauer. Es beschreibt die Magie und die Tragödie einer Beziehung. Ein zum Teil autobiografischer Roman, der nicht nur wegen seiner ausgeprägten Erotik erregt, sondern vor allem wegen der Tatsache, das die Autorin Frau und Araberin ist. Sex ohne Scham. Ein gelungener Marketingcoup eines französischen Literaturprofessors, unterstellt daher so mancher, der vor dem Hintergrund der Diskussion um gescheiterte Zuwanderung, Zwangsheirat und Ehrenmorde nicht besser hätte platziert werden können.

Doch die Autorin überzeugt beim Gespräch sofort. Die zierliche Marokkanerin mit den dunklen lebendigen Augen, den kurzen schwarzen Haaren spricht mit Nachdruck, gestikulierend und rauchend. Eine Intellektuelle mit Wut im Bauch. Die Geschichte einer Liebe, einer sexuellen Obsession und deren Tragik seien aus ihr herausgeflossen, erzählt die Fünfzigjährige. Den Anstoß für den Roman gab ihre Wut: „Es ist wahr, dass wir in der arabischen Welt zurückgeblieben sind, dass der Islamismus uns bedrängt, aber zwischen den zwei Polen, Westen und Islamismus, gibt es eine Realität von Männern und Frauen, die leben, die lieben, die leiden, die teilen und die ein normales Leben führen. Ein Leben, in dem der Körper der Mittelpunkt ist. Denn das World Trade Center, Afghanistan, der Irak, all das, womit man die arabische Welt in Verbindung bringt, das sind Leichname, das ist die Hingabe an den Tod.“ Das Buch will den Körper auf eine, wie sie selbst sagt, „skandalöse Art“ in den Mittelpunkt stellen. „Es ist eine skandalöse Antwort auf eine skandalöse Situation“, erklärt sie.

Es ist die radikale Perspektive der weiblichen Sexualität. Ein Blick in die arabische Welt, „auf dieses Monster“, wie Nedjma sagt, der dort wie auch im Westen unbekannt ist. „Ich wollte mit dem herrschenden Diskurs brechen. Die weibliche Sprache ist neu in der arabischen Welt. Sie wird eher geglaubt. Wenn man ‚ich‘ sagt, hat man eine Kraft, die der männliche und politische Diskurs nicht hat.“ Der Fundamentalismus der arabischen Welt ist „krank und autistisch“, eine „Perversion des Islam“.

Sie möchte mit ihrem Buch an der klassischen Epoche des Islam anknüpfen, als das Denken frei war. Unzählige Stellen im Buch erinnern an die alten Poeten und erotischen Geschichten des Orients.Auch wenn dies sehr konstruiert wirkt, Nedjma hat eine Botschaft: „Damals war die arabische Kultur eine universelle, heute ist sie eine Kultur des Ghettos. Denn es zählt nicht mehr die Rationalität,“ sagt sie.

Erotische Bücher stehen in der arabischen Welt heute auf dem Index. Und in der Tat kann Nedjma nur anonym in Marokko weiterleben. Käme ihre wahre Identität heraus, fürchtet sie auf offener Straße gesteinigt zu werden. „Wir haben drei Tabus: die Religion, den Sex, die Politik. Das ist wie ein Panzer, der sich um die Körper der Menschen legt, der alles erstickt.“ Ihr Buch ist ein Angriff auf Moral, Religion und die Selbstherrlichkeit des Mannes.

Nedjma will nicht verallgemeinern, tut es dann aber doch: „Die arabischen Männer haben Angst vor ihren Frauen, weil deren Körper die letzte Domäne ist, wo sie ihre Macht ausüben können“, behauptet Nedjma. „Die arabische Welt befindet sich im freien Fall (sechs verlorene Kriege, Irak, Palästina), der arabischen Mann ist gedemütigt. Er ist der klassische Loser.“ Die Frau also als letztes Alibi für die trostlose Machtdemonstration des Mannes, nicht nur in sexueller, sondern auch in religiöser, politischer und rechtlicher Hinsicht. „Wenn ein Mann bis heute glaubt, dass seine Ehre von der Sexualität der Mutter, Cousine oder der Schwerster abhängt, dann hat er seine Ehre längst verloren“, weiß Nedjma.

„Die Mandel“ ist poetisch blumig und erbarmungslos direkt zugleich. Ein Roman, der nichts mit den unzähligen autobiografischen Exotikgeschichten im Stile der Weißen Massai gemein hat. „Die Mandel“ ist ein klassischer Entwicklungsroman. Leider trägt die Autorin oft ihre kulturellen Vorbilder vor sich her. Ihr sexueller Offenbarungseid ist nicht leicht einzuordnen für Leser, die mit arabischer Kultur bisher nichts am Hut hatten.

In Frankreich wurden bereits über 40.000 Exemplare des Buchs verkauft, in Deutschland steht es auf den Bestsellerlisten. Schon 13 Verleger erwarben die Auslandsrechte. Sicherlich vor allem ein Erfolg der Erotik und des neugierigen Blicks in fremde Schlafzimmer, aber doch auch ein verdienter Erfolg für das erste Buch der Autorin – für deren Radikalität und Mut.

Nedjma: „Die Mandel“. Droemer/Knaur, 2005, 255 Seiten, 18 €