: Das Fernsehgericht
Sehen Sie ab nächster Woche Joschka Fischer, live auf allen Kanälen, in: „Visa TV – denn Sie haben die Wahrheit verdient“. Lesen Sie vorab: alles über die Stars, Sternchen und Strategien
VON LUKAS WALLRAFF
Wenn Politiker mitten in der Nacht hochoffizielle Pressemitteilungen verschicken, muss schon etwas ganz Besonderes passiert sein. Der Politiker Jerzy Montag jedenfalls hielt es für geboten, gestern um 3.10 Uhr die Öffentlichkeit zu informieren. Eine „historische Entscheidung“ sei gerade in Berlin gefallen, ließ Montag die noch schlafende Republik als Erster wissen. Oha.
Was war entschieden worden? Im Visa-Untersuchungsausschuss des Bundestags sind von jetzt an Fernsehkameras erlaubt. Wenn Promis, also amtierende und gewesene Minister, aber auch Staatssekretäre kommen, darf live übertragen werden. Ist das eine Nachricht, die Deutschland aus dem Schlaf aufschrecken müsste? Nun ja. Zumindest für Montag selbst und seine Ausschusskollegen, die nächtens lang zusammensaßen, um über die Fernsehfrage zu beraten, sieht die Welt nun anders aus.
Montag, grüner Abgeordneter und früher Landesvorsitzender in Bayern, könnte bald sehr bekannt werden. Er ist der Obmann der Grünen im Visa-Untersuchungsausschuss – und damit so etwas wie der politische Rechtsanwalt des wichtigsten Grünen Joschka Fischer. Auch auf Montag kommt es an, wenn der Außenminister die Visa-Affäre überstehen soll. Er kennt alle Akten und muss das Beste für die Grünen daraus machen.
Was schwierig genug wird. Dass Fischer Fehler gemacht hat, weiß inzwischen jeder. Dass die Visaregelungen während seiner Amtszeit „noch missbrauchsanfälliger“ geworden sind, hat er längst einräumen müssen. In der Beliebtheitsskala der Politiker ist Fischer gestern von Platz 1 auf Platz 4 gerutscht. Auch die Grünen-Umfragewerte sinken. Nun, am 25. April, wenn Fischer in den Ausschuss kommt, will die Union ein Schlachtfest feiern, den gestrauchelten Minister grillen, demütigen, am besten stürzen.
Fischers – und damit auch Montags – Gegenspieler ist der milchbubihaft aussehende, aber durchaus smarte CDU-Obmann Eckart von Klaeden. Er wird alles daransetzen, nachzuweisen, dass es noch mehr Fehler gab, die furchtbar schlimmen Schaden für Deutschland angerichtet haben. Montag muss dagegenhalten. Und seit gestern weiß er: Bei diesem Duell kann ganz Deutschland live dabei sein. Eine „historische Entscheidung“, die Montag jetzt gut findet, auch wenn er sie nicht angeleiert hat. Das erledigte vor zwei Wochen die SPD, ohne Rücksprache mit den Grünen, wie das inzwischen, siehe China, üblich ist. Wenn schon, denn schon, lautete plötzlich die Devise, die nach kurzem Zögern auch die Grünen übernahmen: Entweder Fischer kommt am 25. April gut rüber, dann sollen so viele Wähler wie nur irgend möglich zuschauen – oder er blamiert sich, dann, nun ja, dann ist sowieso alles egal.
Sehr zur Freude von Rot-Grün zierte sich die Union verdächtig lange. Es sah so aus, als hätte sie Angst vor Fischer-Live-TV. Damit nährte ausgerechnet sie den Mythos des eloquenten Alleskönners Fischer, an den selbst die Grünen kaum noch glaubten.
Über die langfristigen Folgen für Untersuchungsausschüsse machte sich kaum jemand bei Rot-Grün Gedanken. Es ging ihnen anfangs nur um Fischer – und dann nahm alles seinen Lauf. Die Union hat durchgesetzt, dass vier Tage vor dem Außenminister bereits sein früherer Staatsminister Ludger Volmer vor laufenden Kameras aussagen muss. Das kann heiter werden, freut sich die Union, die genau verfolgt hat, wie ungeschickt sich Volmer Anfang des Jahres gegen den Vorwurf verteidigt hat, Amt und Geschäft verquickt zu haben. Am Ende trat er zurück. Verplappert er sich jetzt im Ausschuss, könnte Fischers Rücktritt folgen. Darauf hoffen die Unionsstrategen. Rot-Grün wiederum kann darauf setzen, dass sich der Ausschussvorsitzende Hans-Peter Uhl (CSU) weiter so unparteiisch verhält wie Fußballschiri Robert Hoyzer. Dann könnte Fischer wie die verfolgte Unschuld wirken. Uhl veräppelt Zeugen und betreibt offenkundig Vorverurteilungen. Kurz: Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde mehr.
Dass Liveübertragungen den Charakter von Untersuchungsausschüssen grundsätzlich verändern werden, blieb eine vergebliche Warnung von Politologen. Ist das schlimm? Das Hauptargument gegen Live-TV aus dem Ausschuss: Dann gehe es den Beteiligten nicht mehr „um die Sache“, sondern nur noch um Parteitaktik und Performance. Mag sein, aber darum ging es schon immer. Der Unterschied ist nur: Jetzt können alle zuschauen, vorher wurde das Gesagte von einer Hand voll Journalisten gesiebt und kommentiert. Der Erkenntnisgewinn hielt sich trotzdem meist in Grenzen.