: Werte- und/oder Religionsunterricht
betr.: „Religion ringt mit Werten“, taz vom 12. 4. 05
Angesichts der in Medien und insbesondere an Schulen zunehmend rigoros um ihre jeweiligen Einflusspotentiale rivalisierenden Konfessionsverbände bietet sich das für Berlin vorgesehene, lehrplanverbindliche und dezidiert missionierungsneutrale Unterrichtskonzept als geradezu unabweisbar politisch gebotene Durchsetzung der Gleichbehandlung aller Glaubensgruppierungen an. Die vehement angestimmten Klagen über einen angeblich nur missionarisch zu vermittelnden Wertekanon sind schon hinsichtlich der vielen Alleingültigkeitspostulate aller Weltreligionen völlig unhaltbar. Nur ein ethisch an zwischenmenschlicher Verantwortlichkeit orientiertes, gesamtgesellschaftlich getragenes Unterrichtskonzept lässt die wirklich individuelle Auseinandersetzung mit den wahrzunehmenden Weltbildentwürfen zu. EVA-MARIA HESSE-JESCH, Gießen
betr.: „Werte stammen aus dem Diesseits“ (Ethikunterricht) von Christian Semler, taz vom 14. 4. 05
Statt über Dogmen und die kirchlichen „Verkündigungen über das Jenseits“ zu räsonnieren, sollten sich Christian Semler (und die taz) lieber mit der Praxis des Faches auseinander setzen. Die Zwitterstellung zwischen Staat und Kirche, die das Fach in den meisten Ländern hat, eröffnet einen großen Freiraum. So konnten in Baden-Württemberg Kriegsdienstverweigerer und Vertreter von Aidshilfen im Religionsunterricht zu Wort kommen, als dies das Kultusministerium für andere Fächer verboten hatte. Dies war nur möglich, weil der Religionsunterricht in der Verantwortung der Kirchen gehalten wird. Gleichzeitig verhindert die Aufsicht des Staates über das Fach aber, dass Fundamentalisten Schüler indoktrinieren, wie das in Berlin möglich ist, wo der Religionsunterricht eine Schattenexistenz fristet.
JÜRGEN WANDEL, Berlin
In einer Stadt, in der viele verschiedene Kulturen und Religionen zusammenleben, in einer Stadt, in der sich weit über 70 Prozent der Bevölkerung zu keiner christlichen bzw. überhaupt keiner Konfession zählen, haben die beiden „Volkskirchen“ einen Status von Minderheiten. Es zeigt, dass die kapitalistische Gesellschaft und ihre Kirchen nicht in der Lage sind allgemein verbindliche humanistische Werte zu vertreten. Der Werteunterricht soll bereits 2006/2007 eingeführt werden. An diesem Unterricht sollen alle Schüler, egal welcher Glaubensrichtung oder Weltanschauung, teilnehmen. Die Schüler haben so die Möglichkeit, ihre Religionen und Kulturen besser kennen zu lernen, und tauschen sich gemeinsam über Werte aus. Die Gefahr besteht, dass durch die Vielzahl der Anschauungen und Erfahrungen mit Religionen Dogmen und Rituale in Frage gestellt werden. Diese Folgen des Werteunterrichts begrüßen die Berliner Freidenker besonders. Unsere Kinder sind unvoreingenommen und brauchen keine vorgefertigten Weltsichten. Darin sehen die Oberen der Kirchen und Religionen die Gefahren und sind sich ausnahmsweise einig. Es geht um ihren Einfluss auf den einzelnen Menschen und die Gesellschaft.
Eine religiös geprägte Gesellschaft ist kein Garant für Frieden und humanistische Werte. Die Geschichte hat uns mit ihren vielen Kriegen und der Einteilung der Welt in Arm und Reich das Gegenteil gezeigt. Humanistische Werte unterliegen der Wandlung und sind das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte des Zusammenlebens der Menschen. MICHAEL LÖFFLER, Berlin
Gibt es denn eine reine, „neutrale“ Beobachterperspektive – an sich, und gerade in Sachen Religion, Weltanschauung, Ethik? Und wie vermittelt man Kompetenz und Orientierungsfähigkeit in diesen Dingen, die Fähigkeit, Totalitarismen und Fundamentalismen zu durchschauen, bevor man sich ihnen anheim stellt? Indem man den utopischen Standpunkt der Neutralität und persönlichen Indifferenz suggeriert und auf diese Weise dann tatsächlich – durch die Hintertür – ideologisiert und indoktriniert?
Wichtig ist doch zweierlei: Zum einen müssen wir den SchülerInnen gleich welchen weltanschaulichen, religiösen, kulturellen Hintergrundes soziale Kompetenz, unsere Grundwerte und spezifische Prägung der Menschenrechte etc. vermitteln, Hintergründe erläutern und so zum Verstehen anregen. Dies sollte in allen Schulfächern geschehen. Brauchen wir dafür nun ein weiteres Fach, dann impliziert dies ein generelles Defizit des Schulunterrichts. Wenn dem so wäre, dann in der Tat „Werte“ oder LER für alle als Pflicht!
Zum anderen müssen wir uns auch im Klaren darüber sein, dass sich Toleranz nicht durch „neutrales Wissen“ erzwingen und Intoleranz nicht mit solchem therapieren lässt, sondern nur durch wahre Kompetenz und Orientierungsvermögen in religiösen Dingen. Dies hat, wer sich aus der Innenperspektive heraus in einer Religion so auskennt, dass er oder sie die internen Mechanismen durchschaut, die in seiner und anderen Religionen zu Fundamentalismen und Totalitarismen führen, und wer von eben der Nichtneutralität jeglichen, so auch des eigenen Standpunktes weiß, da dieser auch innerhalb der eigenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft anders sein kann. Deshalb auch: Religionsunterricht unter staatlicher Schulaufsicht für alle als Pflicht! DIANA HESS, Heidelberg
betr.: „Lieber Gerd, dein Wille geschehe!“, taz vom 14. 4. 05
Welchen Grund mag ein führender Sozialdemokrat wie Gerhard Schröder haben, sich in Berliner Landesangelegenheiten einzumischen, sich an die Seite der EKD zu stellen und sich für den verpflichtenden Religionsunterricht an Berliner Schulen einzusetzen? Wahrscheinlich ist es der gleiche Grund wie der, den mir ein münsterländischer Schulleiter einmal für den Umstand nannte, dass Schüler der Hauptschule (!) in NRW in den Klassen 5 und 6 keinen Werkunterricht haben, andererseits aber zwei Stunden Religion pro Woche: „Die wissen dann, wo sie hingehören.“ Soll heißen: Wer die Existenz eines „Oben“ und eines „Unten“ in der Religion akzeptiert, wird offensichtlich auch das Oben und Unten in der Gesellschaft und seine ihm zugewiesene Rolle klaglos akzeptieren. Oder wie John Lennon es ausdrückte: Keep you doped with religion, film, sex, and TV (and you think you’re so clever, and classless, and free).
Ach ja, was waren das für Zeiten, als auch Sozialdemokraten noch von der Trennung von Kirche und Staat träumten.
CORNELIUS HÜDEPOHL, Tecklenburg
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