: Das einzig Dauerhafte ist die Zerstörung
ENTGRENZUNG Johan Simons’ ambivalente Münchner Inszenierung des Sarah-Kane-Triptychons „Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“
VON SABINE LEUCHT
Das Ende von Johan Simons Inszenierung ist triumphal und wunderschön. Der Anfang jedoch ist ein großes Missverständnis, geboren aus dem nachvollziehbaren Wunsch, die blutigen Grausamkeiten, die die Figuren in Sarah Kanes „Gesäubert“ einander antun, nicht allzu buchstäblich zu nehmen. Statt dass nun Zungen, Arme, Beine und Geschlechtsteile „abgetrennt“ werden und Ratten an Gliedmaßen nagen, macht es in den Münchner Kammerspielen lustig „schnippschnapp“ für die Schere und „brrrr“ für die Säge. Und danach ist alles wie zuvor.
Die Regie verharmlost oder pathologisiert alle Aktionen: Tote stehen wieder auf, Lebende schauen debil oder sabbern vor sich hin; und zwei eigentlich großartige Schauspieler nehmen einem zentralen Gespräch über den Ewigkeitsanspruch der Liebe jede Tiefe, indem sie ihre Sätze aufsagen wie etwas, das ihre kindlichen Figuren den Großen zwar abgelauscht, aber nicht verstanden haben.
Wer das zwar blutrünstige, aber voller hochfliegender Erwartungen an die Liebe steckende Stück Sarah Kanes nicht kennt, wird hier wenig verstehen von der Auflösung der Identitäten und der Sehnsucht der Figuren nach Entgrenzung, die die Autorin in ihren Folgestücken sehr ernst nahm.
Denn Kammerspiel-Hausherr Simons hat das letzte Stück der britischen Dramatikerin, das noch mit namentlich bezeichneten Figuren und einer Art Handlung operiert, zum eher läppischen und zu langen Vorspann eines Abends verkleinert, an dem es dreimal Kane hintereinander gibt: Nach „Gesäubert“ folgt das dramatische Poem „Gier“ von 1998 und das einem depressiven Schub abgepresste „4.48 Psychose“. Letzteres konnte nur noch posthum aufgeführt werden, denn im Februar 1999 nahm sich Sarah Kane mit erst 28 Jahren das Leben, und damit verlor das europäische Theater seine größte Hoffnung auf Versöhnbarkeit von Poesie, Humor, Schmerz und Schmutz.
Nur fünf Stücke hat Sarah Kane hinterlassen, fünf literarische Hilfeschreie, weniger ausgestoßen denn mit immenser Klarheit und Sprachbegabung geformt. Und mit einem untrüglichen Gefühl für die Zeitspanne, die jene Zumutung dauern darf, die jedes ihrer Stücke für den Zuschauer darstellt. Diese Grenze hat das Münchner Triptychon klar überschritten – und auch wieder nicht. Denn während man Teil eins des Abends getrost verdämmern kann, ist Teil zwei schnell vorbei – und um einiges eleganter: „Gier“ ist eine durchrhythmisierte Collage von einander assistierenden oder ignorierenden namenlosen Stimmen, die nach Rettung verlangen, von Inzest, Tod und Zärtlichkeit berichten, literarische Zitate und Alltagsgeschwätz ausstoßen wie verbrauchte Atemluft – und bei all dem Selbstironie beweisen.
In den Kammerspielen sitzen Stefan Hunstein, Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch und Marc Benjamin auf Kinderstühlen unter einer Traube riesiger Lampen aus weißem Papier. Ihre vielstimmige Rede hebt so locker und unbeschwert an wie ein Treppenhaustratsch und ist beschwingt wie Musik. Und wie bei einem Liedtext rauscht einiges vom Inhalt an einem vorbei – bis ein Aufschluchzen oder ein plötzlich heranwehender Regen den Strom zum Innehalten bringt. Die „Figuren“, die hier nicht mehr sind als innere Stimmen, rücken dann für kurze Zeit enger zusammen, bevor sie „ins Licht fallen“ und verstummen. „Glücklich und frei“ sind die letzten Worte des Stücks, das Kane überraschenderweise als ihr bis dahin verzweifeltstes bezeichnete. Der Tod scheint hier noch eine fast elegante, wenn auch ambivalente Lösung zu sein.
Wie schmerzhaft diese „Lösung“ erkämpft werden muss, zeigt schließlich „4.48 Psychose“. Nach der Pause stehen ein Flügel und fünf Streicher auf der Bühne – und an der Bühnendecke hängen nur noch schaurig schöne halb skelettierte Lampen. Ein hochkonzentrierter, in die stille Verzweiflung eingetauchter Thomas Schmauser und eine engelhaft strahlende Sandra Hüller teilen sich das Gros des Textes: diesen sprachgewaltigen Bewusstseinsstrom, diese dunkel glühenden Sätze aus der tiefsten Finsternis der Seele.
Auch wenn die von Carl Oesterhelt komponierte Musik ein wenig zu suggestiv ist und stellenweise an ein Requiem denken lässt: Das Zusammenspiel von Sprache und Musik ist atemberaubend, die Aktionen der Schauspieler sind sparsam, aber wohl gesetzt. Selten zuvor ist die Schönheit von Kanes Sprache so zum Tragen gekommen, die weit über die vermeintliche Enge des psychotischen Geistes hinausweist, wenn es beispielsweise heißt: „Das einzig Dauerhafte ist die Zerstörung.“ Der Kranke oder der, der die Gräueltaten der Welt nicht mehr problemlos von sich fernhalten kann, wünscht sich dann das, was den Figuren in „Gesäubert“ geschieht: „Schneidet mir die Zunge ab, reißt mir die Haare raus, hackt mir die Glieder ab, nur meine Liebe, die lasst mir.“