: Der Jam aus Lütte bei Belzig
Exemplarisch für die Windungen und Wirrungen der deutschen Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts: Keimzeit feiern mit dem neuen Album „Privates Kino“ und der dicken Biografie „Keimzeit. Das Buch“ fünfundzwanzig Jahre Bandgeschichte
VON THOMAS WINKLER
Manchmal darf man sich wundern, wie schnell die Zeit vergeht. Dass es die Einstürzenden Neubauten nun bereits ein Vierteljahrhundert gibt, das hatte man irgendwie mitgekriegt, dazu waren sie immer laut genug. Aber dass auch Keimzeit mittlerweile 25 lange Jahre Bandgeschichte angehäuft haben, das kommt bei so einer leisen Band dann doch einigermaßen überraschend.
Das Jubiläum begehen Keimzeit mit einer Doppeloffensive aus dem neuem Studioalbum „Privates Kino“ – ihrem nun auch schon achten – und einem Buch, das zweieinhalb Dekaden Keimzeit rekapituliert. Dort kann man nachlesen, warum Keimzeit 25-Jähriges feiern, wo doch das Geburtsjahr der Band gemeinhin auf 1982 datiert wird. Denn die drei Brüder Leisegang, die bis heute das Rückgrat der Band bilden, so erfährt man in „Keimzeit. Das Buch“, gründeten bereits zwei Jahre zuvor mit Schwester Marion die Amateurband Jogger, die sich schließlich in Keimzeit umbenannte.
Im weiteren Fortgang schildert Autor Christian Hentschel die Geschichte der Band weitestgehend chronologisch und informationsreich. Vornehmlich allerdings hat er gesammelt, mit Beteiligten und Weggefährten gesprochen. In Interviews zu Wort kommen nahezu alle aktuellen und ehemaligen Bandmitglieder, Plattenfirmenmitarbeiter und Produzenten – einige haben Kurzgeschichten und Gedankensplitter beigesteuert. Unkommentierte Werbetexte der Plattenfirmen, im Branchenjargon „Presseinfo“ geheißen, sowie Zeitungsartikel, Songtexte und viele Fotos aus Privatbesitz vervollständigen die Bandbiografie zum dreihundert Seiten starken Wälzer.
Detailverliebt registriert der Musikjournalist Hentschel, der die alte DDR-Musikzeitschrift Melodie & Rhythmus wieder belebte, jeden Wechsel in der Technikerriege. Er zitiert aus Stasiunterlagen, spricht mit allen vom Grafiker bis zum Webmaster von www.keimzeit.de und berichtet manche Anekdote – aber bleibt, so sehr er der Band selbst auch nahe rücken mag, dem Phänomen Keimzeit seltsam fern. Im Vorwort betont Hentschel, Keimzeit habe ihm vollkommen freie Hand gelassen. Tatsächlich fallen kritische Worte zur Entwicklung der Band, vom langjährigen Saxofonisten Ralf Benschu oder dem nach 17 Jahren ausgestiegenen Gitarristen Ulle Sende. Aber hier wie sonst regiert die eingeschränkte Sicht aus dem Inneren des Gegenstands. Der analytische Draufblick fehlt. Auch die ausgewählten Presseartikel, vornehmlich aus der Sächsischen, Mitteldeutschen und Märkischen Allgemeinen Zeitung, beschränken sich weitestgehend auf Verlautbarungsjournalismus.
Dabei hätte eine Historie dieser Band mehr sein können als eine Geschichte für Fans, in der sie nachlesen können, was sie eh schon wissen, steht die Geschichte dieser Band doch auch exemplarisch für die Windungen und Wirrungen der deutschen Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts. Anhand der Keimzeit-Geschichte hätte sich leicht auch Zeitgeschichte aufschreiben lassen, zwischen Ost und West vor, während und nach der Wende. Diese Chance hat Hentschel nicht verpasst, sondern offensichtlich nie nutzen wollen, was besonders schade ist, als die Band selbst immer relativ offensiv mit ihren eigenen Brüchen umgegangen ist. Mittlerweile haben sich einige Generationen an Fans zu- und wieder abgewendet. Manche dieser Abschiede verliefen überaus schmerzhaft: Als sich etwa die Band von der fünf Stunden lange Konzerte spielende Grateful-Dead-Kopie für den Osten zu einer Band entwickelte, die einen eigenständigen Ausdruck in einem wiedervereinigten Deutschland suchte und Anschluss fand im „kreativen Zirkel“ (Norbert Leisegang) um den Hamburger Produzenten Franz Plasa, der nun wieder für das neue Album „Privates Kino“ verantwortlich ist.
Auf „Privates Kino“ behandeln Keimzeit diese Häutungen und Wandlungen erstmals offensiv. Im letzten Song „Vorhang“ findet Norbert Leisegang abschließende Zeilen für jene Fans, die die Band allzu sehr als Identifikationsmodell vereinnahmten und ihnen ihre Entwicklung niemals verziehen haben: „Hier, wenn bis hier her nichts für dich dabei gewesen ist / Sieht es schlecht aus, denn das Album geht zu Ende hier.“ Und in „Sängerin“ setzt er sich fast ein wenig resignierend mit seiner eigenen Rolle als sensibler Frauenheld und ewig jugendlicher Poet auseinander. Stattdessen findet der ehemalige Schwurbeldichter immer klarere Worte, kann selbst solch sperrige Wortungetüme wie „Sexualität“ ganz selbstverständlich singen und erregt sich politisch unkorrekt über „Rentner“. Und liefert natürlich dennoch seinen gewohnten Teil fein ziselierter Reime und einfallsreicher Metaphern ab.
Auch musikalisch gehen Keimzeit den eingeschlagenen Weg weiter, setzen immer mehr schwere Gitarren ein, verzichten zunehmend auf das Saxofon von Benschu: Sie sind ganz überraschend eine gute Rockband geworden, die aber auch ihre Vergangenheit nicht völlig zum Teufel jagt. Manchmal nämlich schimmert sie noch durch, die jammende, folkig und ein wenig ziellos dahin daddelnde Geschwistercombo aus Lütte bei Belzig. Das sind dann die Momente, in denen man sich wundert, wie schnell die Zeit doch vergangen ist.
Keimzeit: „Privates Kino“ (Pirate Records/Sony); Christian Hentschel: „Keimzeit. Das Buch“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 312 Seiten; Live am 20. 4. im Huxley’s und am 7. 5. im Frannz