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Archiv-Artikel

Kriegskinder – ein spätes Coming-out

Lange hat die Generation der 1930 bis 1948 Geborenen geschwiegen: über das Leid in Bombennächten, über den Verlust der Väter. Jeder Dritte leidet noch heute unter Traumata. Jetzt hat ein Kongress das Rede-Tabu gebrochen

FRANKFURT taz ■ Das Terrain war schwierig, die Anspannung greifbar. „Kriegsfolgen vererben sich“ war ein Fazit eines Kongresses über ein bislang wenig erforschtes Thema: „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa“. Drei Tage lang diskutierten rund 600 ExpertInnen, Zeitzeugen und Studierende über die Erfahrungen der zwischen 1930 und 1948 geborenen Deutschen.

Studien zufolge haben über 30 Prozent der damaligen Kinder und Jugendlichen auch heute schwere Traumata. Viele leiden unter körperlichen und psychischen Schäden, an Ängsten und Depressionen. Da sich die meisten von ihnen, so eine These, der Ursachen nicht bewusst seien, würden die Probleme der heutigen Großeltern auch an die dritte Generation, die Enkel, weitergegeben.

Das Thema bereite ihm „Bauchschmerzen und Unbehagen“, sagte Dieter Graumann, Vorstandsmitglied der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, zu Beginn der von Fritz-Bauer-Institut, Sigmund-Freud-Institut und Kulturwissenschaftlichem Institut Essen konzipierten Tagung. Graumann warnte, die Vernichtung der Juden dürfe nicht gegen das Leiden der Verursacher aufgerechnet werden. Es dürfe keinen „Einheitsopferbrei“ geben mit dem Tenor: „Alle haben doch irgendwie gelitten. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.“

In fünf Workshops mühten sich die Teilnehmer um Differenzierung. Immer wieder berichteten Zeitzeugen, sie hätten bisher keine Chance gehabt, über ihre Erfahrungen zu reden. Oft schien es ihnen ein bis dahin verdrängtes Bedürfnis zu sein, die Nächte im Luftschutzkeller, Bombenangriffe, den Verlust der Väter, der Habe, die Erfahrung der Unsicherheit und der Ohnmacht der Erwachsenen oder die der Trennung von den Eltern durch Evakuierung zu schildern. Auch nach dem Krieg seien die Leiden der Kinder in Familie und Schule nicht thematisiert worden. Die Tätergeneration habe vorwiegend geschwiegen. Man habe viel zu früh erwachsen werden, hohen Leistungsansprüchen nachkommen und funktionieren müssen. Diffus habe man Schuld gespürt, aber nicht nachfragen, keine Gefühle zeigen dürfen. Das, so die Geschichtsprofessorin Ursula Becher, sei auch ihr eigenes „mentales Gepäck“ gewesen, das sie unbewusst an ihre Kinder weitergegeben habe.

Die Essener Museumskuratorin Hilde Jamin wies darauf hin, dass es heute leichter als noch vor 20 Jahren sei, Exponate von Zeitzeugen für Ausstellungen zu bekommen. Oft seien nur wenige Stücke gerettet, Fotos, Briefe oder Tagebücher aus der Nazi-Zeit in Keller und Kisten verbannt worden. Viele Leihgeber der Essener Ausstellung „Maikäfer flieg …“ über die Kriegs- und Nachkriegszeit hätten sich erst im Alter wieder mit ihrer Kindheit auseinander gesetzt. Sie hätten berichtet, wie ihre Erinnerung durch die Elterngeneration unterdrückt worden sei. Viele hätten nur Positives im Gedächtnis behalten. Männer erzählten, dass sie als Jungen stolz darauf waren, „kleine Helden“ zu sein und keine Angst gehabt zu haben. Über Hunger und Tod sei auch in der Nachkriegszeit wenig geredet worden. Man habe sich einem „Selbstverbot“ unterworfen: „Das mit den Juden war ja viel schlimmer.“

Der Kasseler Psychoanalytiker Hartmut Radebold wies auf die langfristigen Folgen der Verdrängung bei derjenigen Generation hin, die heute in der Bundesrepublik Entscheidungsträger sei. Auch Politiker wie Gerhard Schröder, Wolfgang Thierse, Bundespräsident Horst Köhler seien „typische Kriegskinder“. Sie seien damals zwar noch nicht erwachsen gewesen und trügen für die Kriegsgräuel direkte keine Schuld. Sehr wohl aber seien sie verantwortlich für das „Nie wieder“ dieser Zeit, die auch sie geprägt habe.

Kriegsfolgen, so ein Fazit, seien langfristig und interdisziplinär aufzuarbeiten. Dies dürfe sich keinesfalls „nur auf den eigenen Kulturkreis“ beschränken, forderte der Historiker Jörn Rüsen. Es sei notwendig, die „Leidspuren“ zu erhalten, sagte auch Micha Brumlik, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, das Geschichte und Wirkung des Holocaust erforscht. Schließlich wüchsen heute viele junge Menschen ohne direkten Bezug zur Geschichte auf. Der Blick auf alle Opfer sei wichtig, auch wenn es manchem schwer falle, „auch Leiden von Menschen zu artikulieren, die Nutznießer oder Verursacher des Schreckens waren“. HEIDE PLATEN