: Ein Kessel Rotes zum Mittanzen
UTOPIEN PFLEGEN Kellnern, Kranke pflegen, Mülltonnen zählen: Wie sich Künstler über Wasser halten und weiterspielen
VON NILS MICHAELIS
In Krisenzeiten haben Utopien Hochkonjunktur, wie diverse Debatten um die Zukunft des Kapitalismus zeigen. Für die künstlerische Umsetzung entsprechender Weltentwürfe steht vor allem die freie Theaterszene. Ihre Fördermittel, knapp seit jeher, versiegen jetzt teilweise ganz. Dennoch arbeiten hier Leute weiter, die weder verrückt noch verbissene Idealisten sind.
Die materielle Seite einer Künstlerexistenz kann vergleichsweise profan sein. 1-Euro-Jobber Simon Gläsner zählt an einem verregneten Sommertag die Mülleimer am Kreuzberger Bethaniendamm. Seine kreative Leidenschaft gehört der Schauspielerei, die der 30-Jährige im „Neuen Notwendigen Untergrund“ (NNU) auslebt.
Zur Not ohne Gage
Seit fünf Jahren macht die Plattform freischaffender Kreativer NNU mit Theaterprojekten und Performances auf sich aufmerksam. Ihr Motto: Freie Kunst lebt nicht zuerst von Fördergeldern, sondern von ein paar Mutigen, die auch ohne Gage arbeiten. Wer öffentliche Mittel bekomme, sei weitgehend vorbestimmt, daher müsse man sich von ihnen abkoppeln, so gut es geht: So fasst der künstlerische Leiter Uwe Schmieder das ökonomische Leitmotiv seiner Truppe zusammen.
Der NNU macht gewissermaßen aus der Not eine Tugend. Viele Mitstreiter spielten oder inszenierten am einstigen Orphtheater, dem der Senat Ende 2008 die Fördermittel gestrichen hatte. Schmieder – 1959 in Bautzen geboren – wirkte dort als Regisseur und Schauspieler. Jetzt gilt sein ganzes Engagement dem NNU. Zufrieden blickt er auf die erste Hälfte dieses Jahres zurück. Die Aufführung der Heiner-Müller-Revue „Die Umsiedlerin“ – eine skurrile Collage aus Müller-Versatzstücken, Arbeiterliedern und Filmausschnitten – in der Theaterkapelle Friedrichshain habe sogar ein paar symbolische Euro pro Nase abgeworfen, sagt er. „Viel wichtiger ist aber, dass wir Energie für neue Ideen und Projekte gesammelt haben.“ Etwa für den „Chor der aufgeweckten Visionäre“, den im Frühjahr gut zwei Dutzend NNUler aus der Taufe gehoben haben, um ihre Version eines „Anti-Krisen-Sounds“ auf die Bühne zu bringen.
Visionen im Chor
Dessen Repertoire zeichnet sich durch eine Mischung aus sozialistischen Kampfliedern, Partisanen- und Hausbesetzer-Hymnen sowie Volksliedern aus. Punkige Gitarrenrhythmen verstärken die Gesänge, und statt stimmlicher Perfektion bleiben der inbrünstige Vortrag, Spaß an Verfremdung und Albernheit beim Publikum hängen. Die Vertrautheit mit dem Liedgut, das neben der DDR-Hymne „Unsere Heimat“ unter anderem Rio Reisers „Sklavenhändler“ einschließt, befördert merklich die Aufmerksamkeit der Zuhörer, etwa kürzlich beim „Europa-Musik-Festival“ in Angermünde. Reagierten die Uckermärker anfangs ratlos auf den Kessel Rotes, klapperten am Ende die Caipirinha-Becher im Takt, wurde lautstark mitgesungen und getanzt.
Der bisweilen groteske Charme des Liederreigens sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dahinter der Protest gegen gesellschaftliche Schieflagen verbirgt, die sich in Zeiten der Wirtschaftskrise noch zu verschärfen drohen. Das Lied „Sei immer bescheiden“ etwa widmete Schmieder in Angermünde jenen deutschen Großbanken, die jüngst in den Genuss staatlicher Milliardenspritzen gekommen waren.
Wie schon mit der „Umsiedlerin“ beschwört die bunt zusammengewürfelte Gesangstruppe das Mantra der Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber dem Gewinnstreben durch Solidarität und kulturelle Traditionen – Letztere kommen nicht zuletzt in Volks- oder Kinderliedern zum Ausdruck. Schmieder: „Der Mut zur Naivität und die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln bringt die Menschen zusammen. Damit wollen wir gegen die Krisenstimmung ansingen.“ Jeglichen Ostalgieverdacht wischt er vom Tisch: „Die Wende war das Beste, was meinem Beruf passieren konnte. In der DDR gab es keine freie Theaterszene, sondern unbefristete Arbeitsverträge. Das war nichts für mich.“ Das Lied „Unsere Heimat“ lasse sich als Widerstand dagegen umdeuten, seine „Heimat“ im Sinne der Gesellschaft auf die Erwirtschaftung ökonomischen Mehrwerts reduzieren zu lassen.
Oasen in der Wüste
Der utopische Überbau einer besseren (Kunst-)Welt faszinierte offenbar auch den Theater-Kritiker Martin Linzer, der dem NNU-Ensemble attestierte, es würde nicht nur das „Wachsen der Wüste beklagen, sondern darin auch neue Oasen schaffen wollen“. Doch die wirtschaftliche Situation freier Künstler legt nahe, dass die ironische Distanz der NNUler zum wirtschaftlichen und künstlerischen „Mainstream“ auch auf dem Bewusstsein ihrer persönlichen prekären Existenz fußt.
Statistische Angaben markieren indes unterschiedliche Trends. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verdienten freie darstellende Künstler in Berlin – Film- und TV-Schauspieler ausgenommen – zuletzt durchschnittlich knapp 1.600 Euro im Monat. Die Gewerkschaft Ver.di nennt dagegen einen Betrag von 800 Euro.
Tendenz: sehr mager
Letztere, eher magere Tendenz spiegelt sich in den Reihen der „aufgeweckten Visionären“ wider. Viele – so auch Gläsner und Schmieder, wenn sie nicht gerade einen Honorarvertrag ergattert haben – leben von „Hartz IV“. Andere jobben als Krankenschwester oder Kellner. So werden die Untergründler auch weiterhin einen langen Atem benötigen.
Trotz des bisweilen plakativen Guerilla-Habitus seiner Gruppe behält Schmieder öffentliche Geldquellen im Blick. Das zeigen sporadische Fördermittelanträge wie für ihre Inszenierung Heiner Müllers, die sie „Hamletfabrik“ nennen. Auch das „Krankenhaus am Rande des Staates“ ist bereits in der Mache.
Mit ihrem Optimismus und ihrer Fantasie zeigen die Männer und Frauen des NNU, dass der Kampf gegen die Krisenstimmung Spaß machen kann. Es ist der Spaß an den Utopien. Oder an Träumen, die sich eines Tages erfüllen könnten? Quereinsteiger Gläsner hat sein Ziel klar vor Augen: „Eines Tages möchte ich von der Schauspielerei leben können.“