: Draußen sterben die Leute
Authentizität und Postkolonialismus! Globalisierung und Terrorismus! Die Sängerin M.I.A. gilt als die neue britische Diskurspopsensation. Auf ihrem Debütalbum „Arular“ ruft sie nun die Sounds der globalen Basskultur zur Konferenzschaltung
VON TOBIAS RAPP
Verdammter Tsunami. Als würden sich die großen Themen der Gegenwart nicht schon dicht genug um Maya Arulpragasam drängen, muss sie sich nun auch noch zum Tsunami äußern. Es ist Januar, und eigentlich ist sie nach Deutschland gekommen, um Interviews zu ihrem Debütalbum „Arular“ (XL Recordings / Beggars Banquet) zu geben. Und, um eine lange Geschichte kurz zu machen: Arulpragasam ist unter ihrem Künstlernamen M.I.A. die britische Diskurspopsensation der Saison, und ihre Familie kommt aus Sri Lanka.
Als sie von dem Tsunami erfuhr, habe sie sofort nach Sri Lanka fahren wollen – bis ihr Verwandte am Telefon gesagt hätten, dass sie nicht gebraucht werde, sie würde ihnen nur das Wasser wegtrinken. Was tun? Die Hilfsorganisation Oxfam habe angefragt, ob sie mit Coldplay zusammen bei einem Benefizkonzert auftreten wollen – aber das sei doch eine Nummer zu groß. Da würden sich doch alle fragen, was will die da? Wer ist das überhaupt? Die steht doch nur da oben, weil sie aus Sri Lanka kommt. Nein, zwei kleine Benefizkonzerte in New York und Los Angeles werde sie geben, das müsse reichen.
Arulpragasam ist klein, hat ihren schmalen Körper in weite, quietschbunte Trainingsklamotten verpackt, schaut einen aus intensiven braunen Augen an, raucht eine Mentholzigarette nach der anderen und redet ohne Punkt und Komma. Schon die vier Minuten, die man zum Tsunami aufs Ohr getextet bekommt, umreißen einigermaßen passgenau, warum sie die popkulturelle Öffentlichkeit in eine solche Aufregung versetzt hat. Ob sie will oder nicht: M.I.A. symbolisiert den Einbruch der Realität in die Simulationssphäre des Pop. Maya beherrscht die Kunst, den Anschein zu erwecken, über die Wirklichkeit da draußen etwas zu sagen zu haben. Die echte Wirklichkeit. Das hat viel mit Unwissenheit zu tun – was weiß man schon über Sri Lanka? Vor allem aber liegt es an dem, was es über Maya Arulpragasam zu sagen gibt.
Geboren wird sie 1977 als Migrantenkind in London. Als sie sechs Monate alt ist, kehrt ihre Familie nach Sri Lanka zurück. Ihr Vater ist eigentlich Ingenieur, hatte aber eine Nachricht aus der Heimat bekommen, dass sein Vater von der Armee schwer misshandelt worden sei und Hilfe brauche. Kurz nach der Rückkehr wird er Mitbegründer der E.R.O.S. (Eelam Revolutionary Organization of Students), einer tamilischen Befreiungsarmee, und verschwindet aus dem Leben seiner Tochter. Die führt ein einigermaßen glückliches Leben – bis sie sieben Jahre alt ist, der Bürgerkrieg eskaliert und die Mutter mit den Kindern nach Madras in Indien flieht. Dort leidet die Familie aber Hunger, und Mayas Schwester erkrankt an Typhus. Also ziehen sie zurück nach Sri Lanka, wo es auch nicht viel besser ist – und ihnen gelingt die Ausreise zurück nach Großbritannien. Sie landen in einem Flüchtlingsheim. Das ist der eine Teil ihrer Geschichte.
Maya wächst südlich von London in Mitcham auf, einer Hochburg der britischen National Front. Und entschließt sich, Kunst zu studieren – hier beginnt der andere Teil der Geschichte. Sie wird nämlich auf dem renommierten St. Martins College angenommen (genau jene Kunsthochschule, deren Upper-Class-Studentinnen Pulp in „Common People“ verewigt haben: Kleine Ironie am Rande, hat doch Steve Mackey von Pulp „Arular“ mit produziert). Sie habe zwar keinerlei ernsthafte künstlerische Erfahrung vorweisen können, sagt Arulpragasam, aber sie habe so lange gebettelt und schließlich gedroht, auf den Strich zu gehen, wenn sie nicht angenommen werde, dass sie tatsächlich einen der begehrten Plätze bekommen habe. Grauselig sei es da im Übrigen gewesen: Ihre Kommilitoninnen hätten immer nur fallendes Laub filmen oder Kurzfilme über ihre Katzen drehen wollen: „Dabei sterben da draußen Leute!“
Diese Leute, die „da draußen“ sterben, erwähnt Arulpragasam mehrmals – vielleicht, weil einer von ihnen ihr Cousin war, der sich an dem Tag, als sie ihren Hochschulabschluss erhielt, in Colombo als Selbstmordattentäter in die Luft jagt. Sie reist nach Sri Lanka, um einen Film darüber zu drehen, was es heißt, dort Jugendlicher zu sein. Zurück in London, benutzt sie die Aufnahmen aber, um die Stills verfremdet auf Leinwände zu übertragen. Dafür erfindet sie ihren Künstlernamen M.I.A., der je nach Lesart für Missing In Action oder Missing In Acton steht – im Londoner Stadtteil Acton wohnte sie zu dieser Zeit. Vier ihrer Bilder hängen nun übrigens bei Jude Law im Wohnzimmer.
Das also ist M.I.A. Um solche Biografien in ein begriffliches Raster zu fassen, haben die Neunziger die wunderbare Hohlformel von der Globalisierung bereitgestellt. Und bei einer Lebensgeschichte, die mit ihrem Authentizitäts-Overload auch am Reißbrett eines genial durchgedrehten Plattenfirmenwerbezetteltexters erfunden sein könnte, beruhigt es fast ein wenig, wenn man in klatschsüchtigen britischen Internetforen liest, dass Arulpragasam eben auch eine dieser Nervensägen gewesen sei, die in dem Bemühen, eine Karriere zustande zu bringen, jahrelang auf Londoner Szenepartys herumhing, um die Leute kennen zu lernen, die man dazu braucht – was man sich gut vorstellen kann, wenn man sie vor sich sitzen hat. Ein Job als Tourfilmerin der Band Elastica, so geht die offizielle Geschichte, brachte sie mit der Berliner Electropunk-Performerin Peaches zusammen, die ihr die Macht musikalischer Reduktion näher brachte: „One woman, one mike, one machine“. Sie besorgte sich eine Roland 505, die so genannte Groovebox. Und begann, Musik zu machen.
„Galang“ war die erste Single, die sie 2003 zusammen mit Steve Mackey aufnahm. Nachdem dieses Stück einigen Wirbel verursacht hatte, nahm XL Recordings sie unter Vertrag. Es folgte im vergangenen Herbst das Stück „Sunshowers“ und „Piracy Funds Terrorism“, ein Mixtape, das sie mit dem amerikanischen Produzenten Diplo einspielte. Wegen ungeklärter Samples kam es zwar nie in den offiziellen Verkauf, schaffte es aber erstaunlicherweise bis auf Platz 23 der Jahresbestenliste der amerikanischen Musikkritiker in der Village Voice (man findet es in jeder Musiktauschbörse im Internet).
Der Hype, der schon Wochen vor Erscheinen von „Arular“ die britische Musikpresse heiß laufen ließ und von erregten Diskussionen in verschiedenen Onlineforen flankiert wird, liegt auch an dem Cluster von Großbegriffen, die M.I.A. aufruft: Authentizität und Postkolonialismus! Globalisierung und Terrorismus! „Like the PLO we don’t surrender“, lautet eine gern zitierte Stelle aus „Sunshowers“, „I’ve got the bombs to make you blow / I’ve got the beats to make you bang“, heißt es in „Pull Back The People“.
Was hält man von einer solchen Aussage in Anbetracht der Tatsache, dass das Album als Titel den nom de guerre von Arulpragasams Vater trägt, Kämpfer in einer Organisation, die von der US-Administration als terroristisch geführt wird und Selbstmordattentate verüben lässt? Und überhaupt: Wer sind die Guten, wer die Bösen in diesem Konflikt, von dem man zwar vorher noch nie gehört hat, in den man sich nun aber qua Popkultur hineingezogen fühlt?
Alles ein Missverständnis, winkt Arulpragasam ab – sie benutze lediglich die Bilder und Worte, die medial ohnehin auf jeden einprasseln. Wenn es ihr politisch um irgendetwas gehe, dann darum, den Flüchtlingskids in London wie Colombo zu zeigen, dass es einen Weg rausgebe: raus aus dem Elend, raus in die Welt.
Und tatsächlich ist es genau diese Bewegung, die „Arular“ zu einer so faszinierenden Platte macht. M.I.A. ruft offensichtlich die Sounds jenes kulturellen Kontinuums auf, das man die globale Basskultur nennen könnte: Die metallisch klickende Rhythmusspur des Eröffnungsstücks „Pull Back The People“ erinnert an jamaikanischen Dancehall, die stumpfe Electro-Kickdrum von „Bucky Done Gone“ wahlweise an Miami Bass oder den brasilianischen Baile Funk. Genauso finden sich Anleihen beim Crunk-HipHop des US-amerikanischen Südens oder Londoner Grime. Doch sosehr „Arular“ diese Musiken bemüht, so wenig stellt sie sich auf den rhetorischen Boden dieser Genres. Sie ruft die globalen Ghettosounds zur Konferenzschaltung, ohne sich die lokale Selbstbeschränkung dieser Stile zu Eigen zu machen. Wird dort immer von der eigenen Straßenecke aus argumentiert, ist M.I.A. in einem ganz ursprünglichen Sinne heimatlos.
Natürlich sind Floskeln wie „London calling and speak the slang now, boys say wa, go on girls say wa wa“ offensichtlich vom Dancehall inspiriert. Und ein Satz wie „Fed’s gonna get you pull the strings on your hood / One paranoid youth blazin’ through the hood“ (beides aus „Galang“) würde jedem HipHop-Stück zur Ehre gereichen. Aber wenn dort der scenius spricht, agiert M.I.A. wie ein genius. Mit voller art school pop sensibility nimmt sie sich die Zeichen, wie sie sie gerade zur ästhetischen Intensivierung braucht. Zur Artikulation ihres Ichs nutzt M.I.A. eine Sprache des Wir.
Das ist es dann auch, was M.I.A. von den Protagonisten des Londoner asian underground unterscheidet, die in den Neunzigern Dancehallbeats mit Bhangra-Elementen verbanden: Hier geht es um keine kollektive Aneignung kultureller Formen. Wenn M.I.A. in einer Zeile wie „Click suits and booted in the timberland / freakin’ out to a Missy on Timbaland“ vom Guerillacamp zum amerikanischen HipHop findet, beschreibt sie vor allem das Nirgendwo, von dem aus sie spricht. Wenn „Arular“ für den Einbruch einer Realität steht, dann genau hier: Die Subalternen gehen jetzt auch auf Kunsthochschulen. Und sie machen den besseren Pop. Nicht weil er authentischer wäre – er sieht bloß so aus. Aber darauf kommt es an.