: „Ich bin ein moralischer Mensch“
ZERRISSENHEIT Lady Bitch Ray provozierte mit Porno-Rap und Vaginalsekret. Jetzt will sie brav werden, ein bisschen. Ein Gespräch über Feminismus, Depression und Lady Gaga
■ Die Person: Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray wurde am 3. Juli 1980 in Bremen geboren.
■ Die Rapperin: Lady Bitch Ray rappt seit 1996. Sie hat nie ein Album veröffentlicht.
■ Der Skandal: Radio Bremen entließ sie 2006, als sie ihr freizügiges Myspace-Profil sahen. Sahin klagte, verlor, bekam aber viel mediale Aufmerksamkeit.
■ Die Akademikerin: Sahin hat Linguistik und Germanistik studiert und schloss mit der Note 1,2 ab.
INTERVIEW INES POHL UND ENRICO IPPOLITO
Länger nichts von Reyhan Sahin – oder auch Lady Bitch Ray – gehört? Kein Wunder, sie war abgetaucht wegen einer schweren Depression und schrieb zuletzt an ihrer Doktorarbeit. Die Linguistin und Porno-Rapperin saß 2008 bei Sandra Maischberger, überreichte Oliver Pocher im TV ihr Vaginalsekret, fast jede deutsche Zeitung berichtete über sie. Jetzt kommt sie zurück. Aber wer ist sie?
sonntaz: Sie waren auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere und brachen zusammen. Was ist passiert?
Reyhan Sahin: Ich war in der Bibliothek, Uni Bremen. Es war 12.05 Uhr, und ich habe recherchiert. Dann kamen Panikattacken und Todesangst. Ich muss sterben – das habe ich gedacht. Es ist grau, das Ende ist da. Das Ganze hatte ich schon einmal vor zehn Jahren.
Wie geht es Ihnen? Müssen Sie Medikamente nehmen?
Nicht mehr. Ich habe sie vor ein paar Monaten abgesetzt. Ich habe zwei Jahre ein Antidepressivum genommen. Für mich war und ist Therapie ganz wichtig. Ich habe noch ein halbes Jahr Psychotherapie vor mir.
Einerseits die Doktorandin Reyhan Sahin, andererseits ist da Lady Bitch Ray. Hat Ihr Konzept schizophrene Züge?
In der Klinik hatte ich immer Angst, auch andere psychische Krankheiten zu haben. Und ich hatte immer Angst, manisch-depressiv oder schizophren zu sein. Ich bin zum Arzt gegangen, der mich immer weggeschickt hat, weil meine Symptome für eine neurotische Depression sprachen. Und irgendwann stand ich wieder da, dann haben sie einen Test gemacht. Also, wenn ich stumpf antworten würde, würde ich sagen, nein, es ist diagnostiziert, es ist keine Schizophrenie.
Sie wissen aber, wie wir das meinen?
Mich haben das jahrelang Leute gefragt. Das Problem ist eher, inwieweit habe ich als Reyhan Sahin, die als Künstlerin Lady Bitch Ray ist, in Deutschland eine Chance. Meine größte Angst ist, dass ich als Wissenschaftlerin keinen Job bekomme, weil ich Lady Bitch Ray bin.
Wie sehen Sie sich selbst?
Ich bin von Haus aus türkisch-alevitisch sozialisiert und habe während meiner Depression gelernt, dass Lady Bitch Ray ein Gegenentwurf war zu dem, was mir früher während meiner Pubertät verboten worden ist. Ich habe dann ein Konstrukt daraus gemacht: eine Lady Bitch Ray, die stark ist, emanzipiert und eine starke freie Sexualität auslebt.
Hat das mit Ihrer Biografie zu tun?
Natürlich. Das ist ja bei vielen Gastarbeitern so: Der Vater geht arbeiten, die Mutter ist allein mit den Kinder zu Hause und melancholisch. Ich habe noch die Musik in meinem Ohr von damals – und auch während meiner Depression habe ich diese alevitisch-türkische Musik gehört. Meine Mutter hatte eine Sehnsucht nach ihrer Heimat. Das sind Sachen, die während einer Depression präsent sind, und auch Identitätsfragen: Wer bin ich denn eigentlich? Und wenn man von außen mit Skepsis konfrontiert wird, dann hat man die auch verinnerlicht. Es gab die Zeit am Anfang meiner Depression, als ich dachte: Vielleicht bin ich das ja gar nicht, was die alle sagen. Ich bin gar nicht Lady Bitch Ray, sondern einfach nur Reyhan Sahin. Und irgendwann über die Jahre hat sich Lady Bitch Ray aus dem Inneren wieder bemerkbar gemacht.
Sie sprechen aber über Lady Bitch Ray, als wäre sie eine andere Person.
Ja, weil ich darüber reflektieren kann und weil ich nicht nur Lady Bitch Ray bin.
Wie haben Sie Lady Bitch Ray entwickelt?
Das kann man nur schrittweise entwickeln. Ich war schon immer ein bisschen anders. Mit zwölf habe ich mir von meinem Vater ein T-Shirt mit Peace-Zeichen gewünscht, meine Haare auftoupiert, blauen Lippenstift und gelbe Fingernägel getragen und große Ohrringe. Es kam alles nacheinander. Als ich angefangen habe zu rappen, habe ich mich ja erst Lady Ray genannt. Mein Anwalt nennt mich immer noch Lady Ray, der Spießer.
Ist ja nicht das Schlechteste, wenn der Anwalt eine gewisse Seriosität wahrt.
Ich habe viele spießige Freunde. Ich selbst bin ja auch auf irgendeine Art und Weiße spießig.
Wo sind Sie spießig?
Ich bin ein sehr moralischer Mensch, vor allem was Gerechtigkeit und sexuelle Verwahrlosung angeht.
Was heißt das?
Zum Beispiel Frauen, die mit siebzig Männern oder Frauen geschlafen haben und immer noch auf der Suche sind.
Als Lady Bitch Ray propagieren Sie doch was anderes.
Viele haben das missverstanden. Lady Bitch Ray sagt, sie kann mit fünf Männern am Tag schlafen, solange sie glücklich ist. Aber Lady Bitch Ray plädiert auch dafür, dass Frauen ihren Körper wertschätzen und schützen sollen. Mir geht es darum, dass Frauen ihre Sexualität frei ausleben können, nicht darum, dass es den Frauen schadet. Mir war klar, dass es viele missverstehen. Deswegen habe ich es ja auch so gemacht.
War das notwendig?
Erst mal war das keine Strategie, jetzt im Nachhinein ist es mir klar, dass ich erst provozieren und dann mit Inhalten kommen wollte. Das war schon ein Teil von mir, nur dann kann man das auch so machen. Ich war schon immer in Bremen dafür bekannt, die verrückte Rapperin zu sein, die sich auffällig anzieht. Es war eine Überraschung, dass ich so viel mediale Aufmerksamkeit bekam. Aber tief im Inneren war es mein größter Wunsch.
Wie haben Sie sich weiterentwickelt?
Vor allem habe ich mich durch meine Depression und die Doktorarbeit sehr entwickelt. Als Kind wollte ich einfach nur berühmt sein und Rapstar werden. Und habe dann einfach nicht mehr weitergedacht.
Bis zu dem Moment, in dem die Scheinwerfer auf einen scheinen und man von einer Talkshow zur nächsten wandert.
Genau, und dann merkt man, dass man auch eine Verantwortung trägt. Irgendwann kam der Punkt, wo ich auf der Straße einfach permanent angesprochenen wurde. Und das ist auch okay, aber ich wollte eine Doktorarbeit schreiben, und das geht nicht, wenn die Menschen mich keine Sekunde in Ruhe lassen. Als dann mein Zusammenbruch kam, war das Wichtigste, dass ich alles loslasse. Da ging es dann nur noch um Leben und Tod, ums Weiterleben. Ich hatte eine sehr schwere Depression. Da sieht man nichts mehr.
Wie ist Ihre Familie damit umgegangen?
Ganz besorgt. Ich hab zwei ganz coole Brüder. Ohne meinen älteren Bruder hätte ich die Krankheit auch nie überstanden. Der hat mir ganz viel gegeben.
Ist Ihre Dissertation schon fertig geschrieben?
Ja, und sogar abgegeben.
Wie lautet der Titel?
Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs – Eine kleidungssemiotische Untersuchung muslimischer Kopftuchträgerinnen in Deutschland.
Das klingt ja langweilig.
Meine Doktorarbeit ist eine wissenschaftliche Arbeit. Ich verhandle ein Thema, das mir selbst als muslimisch sozialisierter Türkin in Deutschland sehr wichtig ist. Ich habe in den Medien gesehen, dass die Debatten um das Kopftuch gehen, man sich aber auf gar nichts stützen kann. Die muslimischen Kopftuchträgerinnen selbst kamen nicht zu Wort, und es gab keine richtigen wissenschaftlichen Studien dazu. Außerdem will ich in meiner Rolle als Wissenschaftlerin nicht witzig sein.
Was ist Ihr Berufswunsch?
Ich will eine Professur und Wissenschaftlerin sein.
Und was ist da das größte Problem? Ihre Energie? Die Problematik würde ja bei einer Professur und Lady Bitch Ray bestehen bleiben.
Meine Doktorarbeit habe ich fertig geschrieben und „Bitchsm“, mein Buch, auch. Eins nach dem anderen. Eine Habilitation ist ja auch nicht wie eine Doktorarbeit. Die dauert fünf bis sechs Jahre. Das würde ich mir einteilen. Das habe ich gelernt. Aber natürlich bin ich immer gefährdet. Ich bin eine Workaholikerin. Wenn ich nichts tue, spüre ich mich nicht. Das ist eigentlich total traurig. Für mich war wichtig, mich einfach als Mensch zu akzeptieren – weder als Wissenschaftlerin noch als Künstlerin.
Die Wissenschaft ist aber auch sehr hierarchisch strukturiert.
Bestimmte Sachen kann ich mitmachen. Ich sitze ja auch nicht in der Universität nackt auf dem Tisch. Anderes kann und will ich aber nicht akzeptieren. Hier leben drei Millionen Türken, davon ist die Hälfte weiblich. Ich kann nicht dulden, dass deren Probleme totgeschwiegen oder nur einseitig dargestellt werden. Sie werden in ihrer Freiheit eingeschränkt. Sexualität ist immer noch ein Tabu bei türkischen Frauen.
Versuchen Kopftuch tragende Musliminnen auch Grenzen mit Kleidung und Make-up auszutesten, oder machen sie sich einfach traditionell-klassisch hübsch?
In erster Linie sind sie Frauen. Die Mehrheit der Frauen mag es, sich schön zu machen. Und diese Frauen wollen sich auch schön machen. Das wird in unserer Gesellschaft oftmals als Widerspruch gesehen. Einerseits wollen sie religiös sein, ihre Reize bedecken, und andererseits sich enthüllen.
Es wirkte immer so, als ob Sie das Spiel der Medien mitspielen. Sie haben immer genau das gemacht, was von Ihnen erwartet wurde.
Das würde ich nicht sagen. Niemand hätte erwartet, dass ich meine Doktorarbeit fertig schreibe und als Vornote Summa cum laude habe. Mir ist dieses Unberechenbare innerhalb der Kunst wichtig. Vielleicht kann man als Vergleich Nina Hagen nehmen. Wenn sie in eine Talkshow geht, erwarten Menschen auch immer was von ihr. Ich bin ein sehr großer Nina-Hagen-Fan und war noch ein Kind, als sie im Fernsehen zeigte, wie man masturbiert.
Ist sie eine Art Vorbild?
Schon, und auch Madonna.
Was ist mit Lady Gaga?
Lady Gaga ist voll daneben und gemacht. Mir war wichtig, dass es nach meiner Nase geht, deswegen hatte ich auch keinen Plattendeal. Ich möchte bestimmen, wie meine Texte sind. Ich möchte nicht, dass mir jemand sagt, welche Musik ich zu machen habe. Ich möchte nicht, dass mir jemand sagt, in welchen Filmen ich mitspielen darf oder was ich in meiner Wissenschaft zu machen habe. Ich nenne es vaginale Selbstbestimmung.
Wie wichtig ist Ihnen das Spiel mit der öffentlichen Wahrnehmung? Erwartungen nicht zu erfüllen, Vorurteile zu brechen oder Oliver Pocher Ihr Vaginalsekret zu schenken.
Gar nicht mehr so wichtig.
Und früher?
War ich fast abhängig davon.
Lady Bitch Ray hätte es ohne Öffentlichkeit nie gegeben.
Lady Bitch Ray hätte es schon gegeben, weil sie aus meiner Biografie kommt. Die Frage ist: Könnte Lady Bitch Ray sich weiterentwickeln, wenn das mit den Medien nicht gewesen wäre?
Haben Sie Fehler gemacht?
Das hat mich meine Freundin auch gefragt.
Was haben Sie geantwortet?
Nein. Hätte ich es nicht so gemacht, wäre es nicht so gekommen. Klingt zwar bescheuert, ist aber so.
Warum hängen Sie Lady Bitch Ray nicht an den Nagel?
Irgendwas sagt mir, das ist richtig. Vielen Menschen gibt es auch etwas. In mir ist eine Kraft, die gesellschaftlich was bewegen will. Ich habe gelernt, dass es immer schwer ist, etwas Neues zu machen.
Sie wurden von allen Seiten angegriffen.
Es ist einfacher, als schlichte Person in den Medien zu sein. Wenn man provoziert, gilt man schnell als Störenfried. Bei mir hat sich außerdem auch alles vereint: Klasse, Rasse, Gender.
Vor der Kamera haben Sie sich mit Alice Schwarzer gestritten.
Das war ein ganz wichtiger Streit, der hoffentlich gesellschaftlich weitergeführt wird. Alice Schwarzer steht für einen Feminismus, der erstens nur die deutsche Frau repräsentiert und zweitens muslimische Frauen schlecht darstellt. Außerdem bezieht sie sich gar nicht so richtig auf die Sexualität von jungen Frauen im Allgemeinen.
Muslimische Frauen mit Kopftuch sind laut Schwarzer das Zeichen der Unterdrückung.
Ich kenne ja all ihre Werke, und die sind für mich zum größten Teil unreflektiert. Ich finde, dass man so was Dogmatisches auch nicht einfach raushauen kann. Wir leben in einer Zeit, in der so viele Nationen nebeneinander leben. Ich habe bei Frau Schwarzer das Gefühl, dass sie gar nicht mehr in der Realität lebt. Sie hat durch ihren Status einfach den Bezug zur Straße verloren.
Haben Sie den denn?Ich unterhalte mich diesen Frauen. Man muss, wenn man über Musliminnen mit Kopftuch spricht, auch die ohne berücksichtigen – die oft die gleichen Werte in sich tragen. Ich habe durch die Geschichten dieser Frauen viele Parallelen zu meiner Welt entdeckt.
Warum hatten denn afroamerikanische Rapperinnen wie Foxy Brown, Lil’Kim oder Missy Elliott in den neunziger Jahren und später nie ähnliche Probleme?
Das hat was mit der Stellung der Türken in Deutschland zu tun. Und dann die Kombination mit der Promotion. Ich habe es nicht so empfunden, dass mich Deutsche gehasst haben, weil ich türkische Wurzeln habe. Ich habe einfach nur irgendeinen Hass in der Luft gespürt. Ich betone zwar immer meine Wurzeln, aber ich fühle mich hundert Prozent deutsch und hundert Prozent türkisch. Ich bin deutsch, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das ist mein Land. Hier werden moderne Türkinnen akzeptiert, aber dann gehöre ich mit meinen Wertvorstellungen doch nicht dazu.
Sie gehören nicht dazu, weil Sie eigentlich die Vorzeigetürkin und wahrscheinlich sogar das Integrationserfolgsmodell wären. Stattdessen schreiben und singen Sie diese Songs.
Wenn Integration Bushido ist, dann bin ich Masturbation.
Wie geht es jetzt weiter?
Nächsten Monat werde ich an der Universität Bremen meine Doktorarbeit verteidigen. Außerdem habe ich den Vagina-Style-Votzenschleim-Verlag gegründet.
Den was?
Meinen eigenen Verlag. Ich hatte einen Vertrag mit Bastei Lübbe unterschrieben, die haben „Bitchsm“ aber nicht veröffentlicht. Als es mir letztes Jahr besser ging, habe ich das Manuskript abgeliefert, dann kam von denen die Kündigung, weil mein Buch pornografisch, jugendgefährdend und volksverhetzend sei.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Es ist ein neofeministisches Pamphlet in meiner Sprache. Es geht um Sexualität, Aufklärung, Unterdrückungsmechanismen und auch um HipHop.
Was ist mit Ihrer Musik? Wir warten auf ein Album.
Ich habe neue Songs geschrieben und möchte sie produzieren, aber das mache ich auch allein mit meinem Musiklabel Vagina Style Records.
■ Ines Pohl ist taz-Chefredakteurin und fand Lady Bitch Ray so professionell wie viele Spitzenpolitiker
■ Enrico Ippolito ist taz-Volontär und hat trotz Aufforderung nicht auf Frau Sahins Hintern geschaut