: Ackern auf volles eigenes Risiko
Bund der Versicherten: Immer mehr Selbstständige sind ohne Krankenschutz. Beiträge sind für marode Kleinunternehmer schon zu hoch. Rückkehr in gesetzliche Kassen ist oft verbaut. Beiträge sollten sich besser allein nach dem Einkommen richten
VON COSIMA SCHMITT
Die Zahl ist nur vage und gefährdet doch ein Weltbild: Etwa 300.000 Menschen in Deutschland sollen laut Medienberichten nicht krankenversichert sein. Ist dies bloße Panikmache – oder tut sich mitten im reichen Deutschland ein neuer Riss auf?
„300.000, das halte ich sogar für zu niedrig gegriffen“, sagt etwa Lilo Blunck, Geschäftsführerin des Bundes der Versicherten. „Das Problem wird immer drängender.“
Fakt ist: Niemand weiß genau, wie viele Deutsche unversichert sind. Belegt ist lediglich eine zwei Jahre alte Zahl: Damals ermittelte das Statistische Bundesamt 188.000 Bürger ohne Krankenkasse. Doch seither hat sich nach Expertenmeinung die Lage erheblich verschärft.
„Innerhalb weniger Jahre hat sich die Klientel radikal gewandelt“, sagt Blunck. Früher seien es vor allem Obdachlose und Illegale gewesen, die fernab der Krankenkassen lebten. „Nun aber trifft es den Kioskbesitzer oder Würstchenverkäufer, viele, viele Freiberufler.“ Sie können sich die Versicherung nicht mehr leisten, die Monatsraten nicht mehr begleichen – und fliegen raus.
Dies trifft etwa Freiberufler, die als junge Gutverdiener von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung wechselten. In jungen Jahren bot die private Versicherung mehr Leistung für weniger Geld, weil sie ihre Beiträge nach Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand staffelt. Später dann können sich die Versicherten die gestiegenen Prämien nicht mehr leisten. Sie dürfen aber auch nicht zurück in eine gesetzliche Kasse.
Doch selbst jene, die nicht opportunistisch in die Privatkasse wechselten, stehen oft ohne Versicherungsschutz da. Denn Freiberufler sind nicht gesetzlich pflichtversichert. Eine Ausnahme sind Künstler und Journalisten, die die Künstlersozialkasse auffängt. Zwar können auch andere Selbstständige Mitglied der gesetzlichen Kassen sein – aber nur auf freiwilliger Basis. Die Kassen verlangen dann einen Mindestbeitrag, der um 200 Euro liegt. „Das ist für den kleinen Budenbesitzer oft zu viel“, sagt Blunck.
Ohnehin darf nicht jeder Selbstständige in eine gesetzliche Kasse. Er muss dazu zwei Bedingungen erfüllen: Entweder er war das gesamte letzte Jahr gesetzlich versichert – oder mindestens 24 Monate in den vergangenen fünf Jahren. Durch das Raster fallen zum Beispiel junge Leute, die während des Studiums in der Privatkasse der Eltern mitversichert blieben.
Früher galt dies nicht als Problem, war es doch üblich, als Akademiker schnell eine Anstellung zu finden. Nun aber hangeln sich auch viele Uni-Absolventen als Selbstständige mit Gelegenheitsaufträgen durch. Ein Geldproblem wird das für jene, die einmal ernsthaft krank waren. Die Privatversicherer verlangen Risikozuschläge, etwa von Kunden, die eine Psychotherapie gemacht haben.
Blunck hält dies für einen unhaltbaren Zustand. Ihre Idee: Auch wer sich als Selbstständiger gesetzlich versichert, sollte einen Beitrag zahlen, der sich allein nach seinem Einkommen richtet. Vergleichbaren Zwang sollte der Gesetzgeber auch den Privaten verordnen, meint Blunck: Wenn ein dort Versicherter in Not gerät, sollte auch er nur einen Prozentsatz des Einkommens zahlen müssen.
„Immer mehr Selbstständige fallen durch den Rost“, kritisiert auch Michael Wehran vom Bundesverband der Selbstständigen. Schon jetzt kreise jeder zweite Anruf, den die Insolvenzberaterin des Verbands erhält, um das Thema: Meine Krankenversicherung will mir kündigen.
Eine Möglichkeit immerhin bleibt den unfreiwillig Versicherungslosen: Sie können sich arbeitslos melden und wären dann automatisch krankenversichert. „Der Staat straft also die, die sich gerade nicht in die soziale Hängematte zurückziehen wollen“, sagt Wehran. Etwa weil sie hoffen, dass die Flaute nur vorübergehend ist, dass ihre Geschäftsidee doch noch trägt – oder „weil sie lieber mit 700, 800 selbst verdienten Euro leben als mit Geld vom Staat.“
Ein Ausweg wäre es, statt als Freiberufler als abhängig Beschäftigter zu arbeiten. Doch ein solcher Job muss sich erst einmal finden. Und wer eine Festanstellung bekommt, kann nicht in jedem Fall in die gesetzliche Kasse eintreten. Ist er über 55 Jahre alt und war in den letzten fünf Jahren nicht gesetzlich versichert, bleibt ihm die Rückkehr laut Sozialgesetzbuch verwehrt.
Ein Trost bleibt notleidenden Selbstständigen: Auch wer nicht versichert ist, hat im Ernstfall ein Recht auf medizinische Hilfe. Im Zweifelsfall springt das Sozialamt ein – und holt sich das Geld später von den Kranken zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen