Der große Diktator und sein Schatten

HEAVY-METAL-TANZ Hofesh Shechter ist Choreograf und Schlagzeuger. Im Haus der Berliner Festspiele präsentierte er sein monumentales Stück „Political Mother: The Choreographer’s Cut“ als Rockkonzert

„Where there is pressure there is folkdance“, leuchtet es in ungelenker Schrift von der Bühne

VON TIM CASPAR BOEHME

Die Stühle hatte man entfernt. Wer am Freitag im Parkett des Hauses der Berliner Festspiele Platz nehmen wollte, musste sich mit dem abschüssigen Boden begnügen oder blieb gleich stehen. Mit grellem Flutlicht wurde das wartende Publikum unterdessen schon mal eingestimmt, schließlich sollte es um die deutsche Premiere eines Rockkonzerts gehen. Das zumindest versprach die Ankündigung von „Political Mother: The Choreographer’s Cut“ des israelischen Choreografen und Komponisten Hofesh Shechter, einer neuen Fassung seines erfolgreichen Stücks „Political Mother“. Damit endete die Gastspielreihe „Spielzeit Europa“.

Ein Rockkonzert war es nicht, auch wenn viel und laut gerockt wurde: mit doppeltem Schlagzeug, zahlreichen kleinen und großen, martialisch aufspielenden Trommeln und einer Reihe von Gitarristen, die in bester Heavy-Metal-Manier ihre verrauschten Riffs darüber droschen. Selbst die räumliche Hierarchie eines Rockkonzerts hatte man im Bühnenbild nachgebildet: Ganz oben standen die Musiker wie auf einer Tribüne, unten knapp oberhalb der Zuschauer kreisten die Tänzer, deren Bewegungen mitunter an feiernde Partygänger erinnerten.

Dass trotz aller Ähnlichkeiten zum Stadionauftritt einer beliebten Metal-Band keine Headbanger im Publikum gesichtet wurden, lag nicht nur an der nüchternen Atmosphäre des Hauses. „Political Mother“ bleibt vielmehr selbst in seiner „Konzert“-Fassung ein Tanzstück, in dem mit den Überwältigungsstrategien von Stadionrock zwar gespielt wird, diese aber zugleich ständig gebrochen werden. Auf einer mittleren Ebene des Bühnenbilds, zwischen Band und Tänzern, tritt immer wieder ein Streicherensemble in Erscheinung, um die wuchtige Rhythmusarbeit der anderen Musiker mit getragen kontemplativen Arrangements zu konterkarieren. In einzelnen Passagen beschränkt sich die Musik ganz auf schwebende Flächen ohne nennenswerten Rhythmus.

Mit diesem wechselnden Repertoire stellt der seit 2002 in Großbritannien lebende Shechter, der selbst Schlagzeuger ist, die Musik seines Stücks ungeachtet ihrer beachtlichen Dezibelzahlen stets in den Dienst der Choreografie. In der werden Themen verhandelt, die durchaus mit der Manipulation durch Musik zu tun haben, meistens jedoch in viel grundsätzlicherer Form Fragen von Macht und Unterdrückung andeuten, ohne jemals so ganz greifbar werden zu wollen.

Da ist etwa der unverständliches Gebrüll artikulierende Sänger in Militäruniform, gleichermaßen eine Anspielung an Charlie Chaplins „The Great Dictator“ wie auch an die subversiven Song-Bearbeitungen der slowenischen Formation Laibach, die mit Marschrhythmen und totalitärer Symbolik auf faschistische Untertöne bei scheinbar harmlosen Bands wie Queen hinwiesen. Shechter hingegen setzt weniger auf Zuspitzung denn auf Ambivalenz: Der brüllende Diktator ist im nächsten Moment zum kreischenden Rocksänger geworden, so wie die Tänzer mal in Unterwerfungsgesten kriechende Unterdrückte, mal mit ihrem Tanz aufbegehrende Protestierende oder gar im Gleichschritt vorbeiziehende Staatsgewalt zu sein scheinen.

Dabei bleibt auch die Grundform von Shechters Choreografie, der Volkstanz, eine mehrdeutige Geste. „Where there is pressure there is folkdance“, leuchtet es gegen Ende des Stücks in ungelenker Schrift von der Bühne, wobei Shechter es offenlässt, ob der Tanz als freiheitliche Verteidigung gegen den nicht näher bestimmten „Druck“ oder umgekehrt als Ausdruck von Repression oder gar aggressiver nationaler Selbstbehauptung zu verstehen ist.

Die Bewegungen der Tänzer bleiben bei Shechter ebenfalls rätselhaft. In einem Bild sieht man Paare in Umarmung, die sich gegenseitig erdrosseln zu wollen scheinen, an anderer Stelle beendet ein Tänzer die ruhigen Klänge der Streicher mit einem Fingerschnipsen, so als würde er per Knopfdruck ein störendes Radio abschalten.

Von einem massentauglichen Konzert würde man solche Doppelbödigkeiten eher nicht erwarten. Faszinierend ist das Ergebnis in seiner verstörenden Wucht allemal, auch wenn man hier und da die Zuschauer im ersten Rang beneidete. Die durften nämlich sitzen. Jubel gab es hinterher aus dem ganzen Saal, und das klang dann tatsächlich fast wie im Stadion.