: Der Sound der neuen Armut
In den 90er-Jahren war der Begriff Folk ein Unwort. Jetzt kehrt er zurück aus dem Exil der Weltmusik – das Festival FolkBaltica in Flensburg macht da nur den bescheidenen Anfang. Denn keine Musik passt besser zu Sparzwängen und der neuen Sehnsucht nach Werten
von Benno Schirrmeister
Es musste ja so kommen. FolkBaltica macht nur den Anfang, gewitzt, genau zum richtigen Zeitpunkt. Das Festival, das ab heute in Flensburg und der Region Sønderjylland-Schleswig stattfindet, wird ein Erfolg. Es wird Nachahmer finden. Bundesweit. Die Rückkehr des Folk steht unmittelbar bevor.
Folk, das ist, wenn Sie es schon verdrängt haben, jene Musik, die zeitgleich mit Fritjof Capras „Wendezeit“ erschien, der Bibel des New Age, gegen Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts (SPD) und in der Frühphase der Kohl-Ära. Man war insgesamt sehr irisch damals, mindestens hatte man Heinrich Böll gelesen, und Wackersdorf und Stop-Cruise-Missiles standen ganz oben auf der Demo-Ordnung. Kritik kam irgendwie so aus dem Bauch heraus. Während die sozialliberale Koalition bröckelte, sprach Petra Kelly tränenerstickt zu Hunderttausenden auf dem Bonner Hofgarten, kratzende Pullover, aufgewühlte Emotionen, dazu pfeift ein sehnsuchtsvolles Metallflötchen herzzerreißende Melodien – ein Tinwhistle. Der Name des Original-Instruments gehörte in dieser Zeit zum allgemeinen aktiven Wortschatz. Auch zu Ihrem.
Dann kamen die 1990er-Jahre – kein Folk mehr. Die Szene fristete als Untermieterin der Weltmusik ihr Dasein. Niemand wäre da auf die Idee gekommen, ein Folk-Festival ins Leben zu rufen. Aber die Zeiten ändern sich. Folk kehrt zurück. FolkBaltica ist nur ein Vorbote. Schleswig-Holsteins Noch-Kultusministerin Ute Erdsieck-Rave (SPD) hat es vorschießend bereits als „neuen Leuchtturm am musikalischen Horizont Schleswig-Holsteins“, tituliert – etwas unpassend zwar, wo doch die echten an der Küste gerade aus Kostengründen ausgeknipst werden. Aber was soll’s. Das Festival flackert heute mit einem Konzert in Eckernförde auf, morgen dann in Husum sowie den dänischen Orten Haderslev, Sønderborg, Tønder und Kværs. Insgesamt wird’s bis 24. April 20 Folk-Veranstaltungen geben. Die meisten in Flensburg.
Klar, es gibt auch feine Unterschiede zu einst. Beispielsweise in der Ortswahl. Flensburg? Nachvollziehbar: Heißt doch das derzeitige role model Skandinavien: kein Feinstaub nirgends, Superschulen, null Arbeitslose, alles klasse da oben. Und sicher, der Wiederkehr der Folk-Musik, deren Hauptdisziplinen Dudelsackhupen, Drehleierdrehen, Norwegerpullitragen und, vergessen Sie das Wort nie wieder!, das Blasen des Tinwhistle sind, haftet etwas Ironisches an. Schließlich ist Folk-Musik eine Zurück-zu-Ideologie: „Das Vergessene fühlbar machen“, „Auf der Suche nach den irischen Wurzeln im amerikanischen Bluegrass“, „Wurzelsuche in Senegal“, das sind gängige Titel im führenden Fachmagazin, das sich, kerlig, „Folker“ nennt. Ein Zurück-zur-Zurück-zu-Ideologie, das klingt komisch. Und denkerisch ist es weniger Herausforderung als Zumutung. Aber: Man sehnt sich ja nach verbindlichen Werten. Und die sind ohne Strickpulli und einen Schuss Reaktionäres kaum zu haben. Im Ausgleich sind sie ein ausgesprochen preisgünstiges Vergnügen. Sie helfen sogar sparen.
Noch ein Rückblick: die 90er. Kelly war tot, es herrschte Kohl, gebaut wurde mit poliertem Stahl, Sichtbeton, Glas. Der Dresscode: leger, aber teuer. Zartblaue Designerhemden, offener Kragen, Manschettenknöpfe. Selbstgestricktes? Das soll wohl ein Witz sein. Protzen, klotzen, Geld ausgeben, das war Wert genug.
Derzeit hingegen ist sparen müssen en vogue: Die Bundeswehr schließt Standorte, um ihre Sparquote zu erfüllen, die nordelbische Kirche spart sich Bischöfe. Schleswig-Holstein muss sparen, Bremen auch, genau wie Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Hamburg. Politische Akzente setzt man, indem man je nach Gusto jenem oder diesem Ressort mehr Mittel entzieht. Daher auch die Sehnsucht nach Werten: Wer über die herrscht, kann überzeugend behaupten, er würde an der richtigen Stelle kürzen.
Also tritt die Folk-Musik in Erscheinung. In Schleswig-Holstein, dem am höchsten verschuldeten Flächenland der Republik. Denn sie steht für den Sparwert schlechthin: Echtheit, also möglichst unverarbeitete Natur, Schurwolle, Handarbeit. Folk lässt sich ohne elektronischen Aufwand produzieren, notfalls sogar ohne Verstärker. Das spart bares Geld. Geflickte Hosen sind völlig okay, und gerade wenn getanzt wird, ist der Norwegerpulli Pflicht: Nichts Ehrlicheres als Schweiß, der Geruch der Arbeit, die sich jeder wünscht. Und schließlich verspricht Folk den vielen verunsicherten Kleinsparern Beständigkeit. Weil es ja so urtümliche Musik ist, Jahrhunderte alt und noch dazu aus Skandinavien, aus Dänemark gar, wo derzeit ohnehin das Glück zu Hause ist. Und die Neokonservativen regieren.
Folk, das ist der Soundtrack zu Hartz IV, die Musik zur Angst vor der Katastrophe, sei es die des einst panisch erwarteten Atomkriegs oder der eher privaten des sozialen Abstiegs. FolkBaltica kann gar nicht scheitern.