: Neukölln ist eine Rede wert
In der Werkstatt der Kulturen treffen sich über 250 Neuköllner. Politiker, Vertreter von Initiativen und ein paar Normalbürger reden nicht nur über Probleme ihres Bezirks, sondern auch über konkrete Perspektiven. Arbeitsgruppen bilden Netzwerke
VON SABINE AM ORDE
Auf der Treppe herrscht Gedränge. Wer in den großen Saal der Werkstatt der Kulturen in der Neuköllner Wissmannstraße will, muss sich anstellen. Drinnen sind die meisten Stühle, die um elf große Tische aufgebaut sind, bereits besetzt. „Das Echo auf diese Veranstaltung ist enorm“, sagt Günter Piening, der Migrationsbeauftragte des Senats, und blickt sich hektisch um, so als sei er selbst überrascht von den vielen BesucherInnen. Piening hat in die Werkstatt der Kulturen geladen, um über Neukölln zu debattieren. Über den Bezirk, der inzwischen bundesweit als Beispiel herhalten muss, wenn es um Integrationsprobleme und die Entstehung von Parallelgesellschaften, um soziale Verwerfungen und Verwahrlosung ganzer Quartiere geht.
Mit verursacht hat das Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister des Bezirks. Seit Monaten gibt er ein Interview nach dem anderen und sagt dabei stets dasselbe. „Multikulti ist gescheitert“, so lässt sich Buschkowskys Position kurz zusammenfassen. Mitschuld daran, da ist sich der SPD-Politiker sicher, ist eine „Mafia der Gutmenschen“, die vor Schwierigkeiten die Augen verschließen, Probleme schönreden und von den Migranten zu wenig fordern.
Jetzt steht Buschkowsky an dem kleinen Rednerpult in der Werkstatt der Kulturen, und viele seiner ZuhörerInnen sind solche Gutmenschen, wenn man diesen Begriff gebrauchen will. Es sind Sozialarbeiterinnen, Kirchenleute und Pädagogen, Frauenbewegte und Flüchtlingshelfer, engagierte Anwohner und Vereinsgründer. Insgesamt sind über 250 Menschen Pienings Einladung gefolgt, die meisten von ihnen leben oder arbeiten im Bezirk. Sie wollen über Probleme reden– aber auch über die Potenziale und Perspektiven Neuköllns. So steht es in der Einladung. Und daran hält sich selbst Heinz Buschkowsky. Heute provoziert er nicht. Er spricht von Aufbruch, von Chancen und Signalen.
Doch um große Reden geht es ohnehin nicht. „Das Entscheidende“, sagt der Migrationsbeauftragte vom Redepult herab, „ist die Arbeit an Ihren Tischen.“ Hier soll in kleinen Gruppen über Probleme und mögliche Gegenstrategien in elf verschiedenen Themenfeldern gesprochen werden. Kita und Schule ist so ein Feld, Wirtschaft, Gesundheit, Wohnumfeld und Kultur sind andere.
Um den Tisch „Frauen und Familie“ sitzen mehr als zwanzig Frauen und ein Mann in zwei Reihen. Verstehen können sie sich kaum, so laut ist es im Saal. „Zuerst sollen wir besprechen, welche Probleme es gibt“, sagt die Frau, die als Moderatorin ausgeguckt wurde, als die Gruppe schließlich in einen eigenen Raum umgezogen ist. „Arbeitslosigkeit“, sagt eine Frau sofort. „Gewalt“, eine zweite. „Die Situation nachgezogener Ehefrauen“, „fehlende Sprachkenntnisse“, „mangelnde Erziehungskompetenz“, „Konflikt zwischen traditioneller und moderner Frauenrolle“. In Windeseile sind zwei große Papierbögen voll geschrieben. Bei den anderen Arbeitsgruppen ist es ähnlich. Es gibt eben viele Probleme in Neukölln.
Doch auch zu der Frage „Was wird bereits getan?“, die als zweiter Arbeitsschritt von den Veranstaltern festgelegt worden ist, fällt der Arbeitsgruppe viel ein: Kooperationen zwischen Volkshochschulen und Projekten, die Sprachkurse mit Kinderbetreuung ermöglichen, werden genannt. Zufluchtswohnungen und Beratungsstellen. Die Stadtteilmütter, ein Projekt des Quartiersmanagements Schillerpromenade, bei dem türkischstämmige Mütter fortgebildet werden, um dann andere in Erziehungsfragen zu beraten.
„Müssen wir darüber wirklich reden?“, fragt eine junge türkischstämmige Frau ungeduldig. „Die Zeit ist knapp, wir sollten endlich über neue Ideen sprechen.“ Schnell steht jetzt die häusliche Gewalt gegen Migrantinnen im Mittelpunkt der Diskussion. „Ausländervereine müssen mehr gegen Gewalt mobilisieren“, fordert eine Mitarbeiterin des Vereins Frauenschmiede. „Sie können auf ihre männlichen Mitglieder Einfluss nehmen.“ Die junge Deutschtürkin will positive männliche Vorbilder aus der Community. Promis wie der Boxer Oktay Urkal oder Hertha-Spieler Yildiray Bastürk könnten sich auf Plakaten gegen Gewalt aussprechen. „Man muss die Männer in ihren Cafés aufsuchen“, fordert eine andere Frau.
Die Zustimmung zu diesen Vorschlägen ist groß. Die Warnung, damit könne eine ganze Kultur pauschal verdächtigt werden, taucht in der Präsentation in der großen Runde später am Abend nicht mehr auf. Stattdessen wird bereits an der Umsetzung der Kampagne gestrickt. Das Networking funktioniert. Ein Ziel der Veranstaltung ist bereits erreicht.
Jetzt sind die Tische „Kita und Schule“ und „Spracherwerb“ mit ihrer Präsentation an der Reihe. Im Gespräch mit dem Moderator berichtet der türkischstämmige Sozialarbeiter Kazim Erdogan von seinem Verein, der „Elterninitiative für ein noch besseres Neukölln“. Darin haben sich 50 AkademikerInnen türkischer Herkunft zusammengeschlossen. Sie wollen Eltern sensibilisieren und beraten. „Das ist einfacher, wenn sie das Gefühl haben, das ist einer von uns.“ Die deutsche Lehrerin, die neben ihm am Moderationstisch steht, hat eben noch über die Schwierigkeit geklagt hat, an Eltern heranzukommen. Jetzt sagt sie: „Ich werde Kontakt zu Ihrem Verein aufnehmen, vielleicht können Sie uns helfen.“
In anderen Bereichen ist eine solche Hilfestellung freilich nicht ganz so leicht zu realisieren. Der Wirtschaftstisch hält ein positives Leitbild für Neukölln für notwendig. Der Flüchtlingstisch fordert eine Amnestie für Illegalisierte. Der Kulturtisch will in jeder Straße Neuköllns einen Stammtisch einrichten, damit sich die AnwohnerInnen kennen lernen.
Das geht nicht von heute auf morgen. Und doch dominiert auch in diesen Arbeitsgruppen die positive Resonanz auf die Veranstaltung. Zum Ende der vierstündigen Debatte sagt Dorothea Kolland, die Leiterin des Kulturamts in Neukölln: „Ich arbeite seit 24 Jahren im Bezirk, aber einen Abend mit so breitem Austausch habe ich noch nicht erlebt.“ Den anderen TeilnehmerInnen dürfte es ähnlich ergangen sein.