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Archiv-Artikel

Tigeraugen schauen dich an

Kaum ein Regisseur verstößt so sanftmütig gegen die Filmgrammatik und dreht dabei so hypnotische Filme wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Das Filmfestival Visions du Réel im schweizerischen Nyon widmet ihm zurzeit eine Werkschau

„Wenn ich unkonventionelle Wege gehe“, sagt Weerasethakul,„so gleiche ich das aus,indem ich sehr sanft bin“

VON CRISTINA NORD

Das Verfahren stammt von den Surrealisten. Einer fertigt eine Zeichnung an und reicht sie an einen Zweiten weiter, und zwar so, dass dieser nur einen kleinen Ausschnitt sieht. An dieser Stelle setzt er seine eigene Zeichnung an und gibt sie, sobald er damit fertig ist, an einen Dritten weiter. Auch der kann nur einen kleinen Teil dessen sehen, was seine Vorgänger gezeichnet haben. Corps exquisite heißt dieses Verfahren; in einer einfachen Form kennt man es von den Geburtstagsfesten der Kindheit, als man es sowohl mit Sätzen als auch mit Tier- oder Menschenbildern praktizierte.

Der thailändische Filmemacher Apichatpong Weerasethakul hat die Methode des Corps exquisite aufs Kino übertragen. Für sein Langfilmdebüt ist er drei Jahre lang durch Thailand gereist und hat Menschen in Dörfern und Städten darum gebeten, eine durch Zufall etablierte Geschichte fortzuspinnen. Das Resultat, der Schwarzweißfilm „Mysterious Object at Noon“ (2000), schaut den Erzählern zu, wie sie erzählen oder das Erzählte gleich selbst in Szene setzen. Im Mittelpunkt stehen die Lehrerin Dogfahr, deren behinderter Schüler und eine geheimnisvolle Kugel; die verwandelt sich in einem Schlüsselmoment in einen Jungen oder, je nach Erzähler, in einen Außerirdischen. Auch ein Tiger kommt vor, eine Tigerhexe sowie eine rätselhafte Hautrötung, die unangenehme Folgen zeitigt.

Je mehr Erzähler die Geschichte aufnehmen und weiterentwickeln, umso mehr mäandert der Film. Absichtsvoll verzichtet „Mysterious Object at Noon“ auf vieles, was im Kino den Eindruck von Kontinuität erweckt. Die Schauplätze und das Personal wechseln oft. Weerasethakul markiert die Zäsur, indem er die Kamera in einem Auto oder einem Zug Platz nehmen und die vorbeiziehende Landschaft filmen lässt. Ab und zu bringt eine Kamerabewegung Orte zusammen, die man sich nicht als benachbart vorgestellt hätte. Etwa bei einem Schwenk von einem Schulhof zum Studierzimmer des behinderten Jungen: Dass dieses neben jenem liegt, hätte man nicht vermutet. Wenn man beim Schauen eines Filmes unwillkürlich eine mental map anlegt, dann muss man diese imaginäre Karte in „Mysterious Object at Noon“ wieder und wieder neu zeichnen. Ähnliche Überraschungen ergeben sich aus der Kombination von Bild- und Tonspur: Was auf der Leinwand sichtbar wird, will nicht immer zum Ton passen. Der speist sich nämlich häufig aus einer Quelle außerhalb des Bildausschnitts. Für sich genommen, muss das keine Irritation auslösen. Zu der kommt es, weil man sich die Tonquelle und das im Bildausschnitt Sichtbare in seiner mental map tausend Kilometer voneinander entfernt vorstellt.

Apichatpong Weerasethakul – zurzeit widmet ihm das Festival Visions du Réel im schweizerischen Nyon eine Werkschau – arbeitet immer wieder mit solchen Momenten der Irritation. In „Blissfully Yours“ (2002) wird der Vorspann eingeblendet, nachdem bereits ein guter Teil des Filmes verstrichen ist. Ein erster Gedanke ist: Der Vorführer hat die Rollen vertauscht. Gegen Ende dauert eine einzige Einstellung – die frontal von oben aufgenommenen Köpfe und Schultern eines jungen Mannes und einer jungen Frau, die es sich auf einer Lichtung im Wald bequem gemacht haben – zehn, vielleicht sogar mehr Minuten. Es nimmt nicht wunder, wenn diese Form des Kinos nicht jedem gefällt: Als ich „Blissfully yours“ während des Filmfestivals in Thessaloniki sah, war das Publikum nervös. Viele nutzten ihre Mobiltelefone, viele verließen den Saal. Ein palästinensischer Filmemacher, der auch zu Gast in der nordgriechischen Stadt war, kommentierte: „Film ist Bewegung. Wenn man etwas Statisches haben will, sollte man Maler werden.“

In „Tropical Malady“, Weerasethakuls jüngstem Film, wird nach der Hälfte das Bild für eine halbe Minute schwarz. Auch hier ist man versucht zu denken, dass mit der Projektion etwas nicht stimmt. Doch die Aufblende kommt, das Gemälde eines Tigers nimmt Gestalt an, und es beginnt ein zweiter, ein neuer Film. Folgte man eben noch der Liebesgeschichte zweier junger Männer im Thailand der Gegenwart, so befindet man sich jetzt in einer Legende: Ein Mann streift durch den Dschungel, um einen Schamanen zu verfolgen, der sich des Nachts in einen Tiger verwandelt und Dorfbewohner reißt. Je tiefer der Mann – es könnte Keng, einer der beiden Protagonisten des ersten Teiles, sein – in den Wald eindringt, umso diffuser wird, wer wen jagt. „Der Tiger folgt dir wie ein Schatten“, sagt ein sprachbegabter Affe zu dem Mann. „Du bist seine Beute und sein Gefährte. Töte ihn, wenn du ihn aus seiner Welt befreien willst. Lass dich von ihm verschlingen, wenn du in seine Welt eintreten willst.“

„Beide Teile haben unterschiedliche Titel, unterschiedliche Stile und Erzählhaltungen, die Farben sind anders und der Schnitt auch“, sagt Apichatpong Weerasethakul, als ich ihn im vergangenen Mai in Cannes treffe. „Tropical Malady“ läuft im Wettbewerb des Filmfestivals und wird am Ende den Preis der Jury erhalten. Es ist noch früh am Morgen, wir sind in einer der Hotelbars an der Croisette verabredet. Die Lederfauteuils laden dazu ein, den Schlaf der kurzen Nacht zu verlängern. Weerasethakul verspätet sich ein bisschen. „Die beiden Teile sind eigentlich gar nicht dafür bestimmt, zusammen einen Film zu bilden. Aber irgendwie brauchen sie einander – wie bei einem Männerpaar, wenn man aus einer konservativen Perspektive darauf blickt: Sie sollten nicht zusammen sein, aber irgendwie passen sie zueinander, und sie brauchen sich.“

Weerasethakul kam am 16. Juli 1970 in Bangkok zur Welt; in Khon Kaen, einer Kleinstadt im Norden Thailands, wuchs er auf. Als Kind schaute er vor allem thailändische Genrefilme. Einen Nachhall findet dies in dem gemeinsam mit Michael Shaowanasai gedrehten Spektakel „The Adventures of Iron Pussy“ (2003). Kampfkunst, Musical und Transvestie sind hier zu einer Mischung vereint, die mit dem übrigen Werk kaum etwas zu tun hat – so wenig, dass der Katalog des Festivals von Cannes den Film nicht einmal zu Weerasethakuls Filmographie rechnet. Sein Presseagent erklärt: Für „The Adventures of Iron Pussy“ habe Weerasethakul nur seinen Namen ausgeliehen. Das DVD-Bonus-Material bestätigt dies nicht: Michael Shaowanasai und Apichatpong Weerasethakul sitzen gut gelaunt nebeneinander und spekulieren darüber, ob der Film eine schwule Ästhetik hat oder nicht.

Zum Studium ging Weerasethakul zurück nach Bangkok. Er schrieb sich für Architektur ein. Während dieser Zeit eignete er sich Filmgeschichte an, indem er in die Videothek ging. Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, zog er nach Chicago, wo er am School of the Art Institute studierte. „Ich habe vieles versucht, die Malerei, das Schreiben, aber erst das Medium Film – also die Art von Film, die ich mag, der europäische Film und besonders der US-amerikanische Experimentalfilm – eröffnete mir die Möglichkeit auszudrücken, was mich beschäftigt.“

Zunächst drehte er auf Video und auf 16 mm. Die Resultate wurden in Galerien gezeigt – wenn auch nicht in Thailand: „Dort gibt es keine Orte, die ausstellen würden, was ich mache.“ Wie kam er von der Kunst zum Kino? Dank der französischen Produktionsfirma Anna Sanders und dem niederländischen Fördergremium Hubert Bals Funds bekam er das Budget für „Mysterious Object at Noon“ zusammen. „In der Kunst gibt es ohnehin diese Tendenz hin zur Erzählung, hin zum Film“, sagt Weerasethakul, „es gibt eine Art von Vermischung der Bereiche Kunst und Kino. Und ich befinde mich gewissermaßen in der Mitte dieses Prozesses, in der Mitte dieser Vermischung.“ So gern Weerasethakul gegen die Regeln der Filmgrammatik verstößt, so tut er es doch ohne bilderstürmerische Attitüde. „Ich will die Leute nicht schockieren. Ich bin Buddhist, daher denke ich, dass, wenn wir ein Gefühl – und sei es noch so schockierend – ausdrücken wollen, wir dies nicht auf eine schockierende Art tun müssen.“ Seine Regelwidrigkeiten haben tatsächlich nichts Aggressives. Anders als etwa Abbas Kiarostami, der seine jüngeren, puristischen Digitalfilme als ein Mittel empfiehlt, sich das Hollywoodkino aus den Augen zu spülen, genügen Weerasethakuls Experimente sich selbst. „Wenn ich unkonventionelle Wege gehe, so gleiche ich dies aus, indem ich dabei sehr sanft, sehr liebenswürdig bin. Das ist, wie wenn man Leute trifft: Wenn sie dich anschreien, fühlst du dich nicht gut, oder? Und sie müssen ja auch gar nicht schreien, um zu zeigen, dass sie stark sind.“

Niedergeschrieben mögen solche Sätze Klischees von fernöstlicher Sanftmut wachrufen. Doch ein Klischee, ein in sich selbst versteinertes Bild, ist das Gegenteil von dem, was Weerasethakul macht. Auf der Leinwand entwickelt seine sanfte Stärke ohnehin den Sog des noch nicht Gesehenen, ist sie wie eine neue Droge für die stets hungrige Schaulust. „Atemberaubend“, „magisch“ und „ungeheuer“ lauten dementsprechend die Attribute, mit denen Filmkritiker und Cinephile „Tropical Malady“ bedenken. Die Faszination ist so groß, dass die Werkzeuge der Kritik ruhen, um dem Schwärmen Platz zu machen. Das liegt umso näher, als es schwierig ist, in Sprache zu übertragen, was „Tropical Malady“ besonders in der zweiten Hälfte mit dem Zuschauer anstellt. Die Dunkelheit, die Geräusche des Waldes, die sprechenden Tiere, der phosphoreszierende Korpus eines Baumes, der leinwandfüllende Kopf des Tigers, dazu die Gabe, die Physis des Schauplatzes und der Akteure herauszumodellieren: All das geht eine Mischung ein, für die das Attribut „hypnotisierend“ genau richtig ist.

Weerasethakul bringt seine Bilder in die Nähe dessen, was man sieht, wenn man eben noch eine Lichtquelle anschaute und nun die Augen schließt. Was danach auf der Innenseite der Lider bleibt – er nennt es „das Fortdauern des Anblicks“ – gleicht der Textur seiner Bilder. Die Kamera richtet sich nach innen, dorthin, wo sie Träume und nächtliche Visionen findet. Die Reise des Mannes, der den Tiger bezwingen will, führt zu einem anderen Ergebnis: „Wenn man tagsüber im Dschungel ist, dann nimmt man ihn hauptsächlich mit dem Sehsinn wahr. Aber nachts, wenn man kaum noch etwas sieht, tritt das Visuelle zurück, stattdessen rückt der Geist in den Mittelpunkt. Die Dunkelheit zwingt einen dazu, eine Reise ins eigene Innere zu unternehmen. Das heißt: Je tiefer der Mann in den Dschungel vordringt, umso mehr sieht er von sich selbst.“

Das Festival Visions du Réel dauert bis Sonntag. In Deutschland ist es leider schwierig, Filme von Apichatpong Weerasethakul zu sehen. Die Berliner Videothek Videodrom bietet eine kleine Auswahl an DVDs (www.videodrom.com)